Notizen von Khavn und Alexander Kluge sowie ein Brief von Lilith Stangenberg ORPHEA (2020)


Khavn gilt als einer der bedeutendsten philippinischen Künstler und Filmemacher der Gegenwart. Er ist Regisseur von 51 Lang- und 115 Kurzfilmen, Autor von sechs Büchern und Komponist von 23 Alben. Er wurde für seine Gedichte und Erzählungen mit dem Don Carlos Palanca Memorial Award ausgezeichnet. Er war außerdem Jurymitglied bei zahlreichen internationalen Filmfestivals (Berlinale, Clermont-Ferrand, CPH:Dox, Jeonju, Bifan, Jihlava, New Horizons und DOK Leipzig). Khavn nahm an Ausstellungen am MoMA, MAXXI – Guggenheim Museum, Tate Modern, National Museum of Singapore und der Architekturbiennale Venedig teil und 2017 präsentierten die Internationalen Oberhausener Kurzfilmtage mit „Happyland“ die bislang größte Schau Khavns außerhalb der Philippinen.

Eine Notiz von Khavn

Meine Absicht war es, einen Liebesbrief zu schreiben und letzten Endes wurde daraus eine Geschichte über zwei meiner absoluten Lieblingsfiguren: ORPHEUS & EURYDIKE. Diese Geschichte wurde schon unendlich viele Male erzählt: Mann trifft Frau, die beiden verlieben sich, sie wissen, ihre Liebe ist zum Scheitern verurteilt, doch trotz aller Widerstände versuchen sie es. In manchen Fällen finden sie sogar das ersehnte Happy End, doch meistens sterben sie… und es ist genau ein solches Ende – der Tod – das ihre Geschichte für mich interessant macht. Für die meisten von uns ist Liebe zu einem „sicheren“ Wort geworden. Wir lieben aus den Komfortzonen unserer Wohnräume, von wo aus wir daten, simsen, mailen oder telefonieren, wenn wir uns nicht persönlich treffen können.

Liebe in der heutigen Zeit könnte man mit Instantkaffee vergleichen: Sie ist zu einer Bequemlichkeit geworden, die in den seltensten Fällen Risiken birgt oder Opfer verlangt. Im Vergleich hierzu ist die Liebe zwischen ORPHEUS & EURYDIKE das ultimative Wagnis, eine Auflehnung gegen mangelnde Konstanten in ihrem Leben, eine alles auf Spiel setzende Entscheidung, die nur eines von zwei möglichen Enden nehmen kann: Triumph oder Tod. Wenn der Einsatz so hoch ist, wenn das Leben jede Sekunde zu Ende sein könnte, würde man sich da noch für die Liebe entscheiden? ORPHEA ist eine Geschichte zwischen zwei Menschen, die genau diese Entscheidung getroffen haben. Als ein Rock-Musical in einem imaginierten heutigen Manila, wird ORPHEA zu einem natürlichen Vehikel, um den Mythos zu erzählen und neu zu deuten. Dabei fokussiert ORPHEA sich in bestimmten Teilen auf die inhärenten Absurditäten des Lebens auf den Philippinen.

Es ist eine Geschichte, die von Songs, von einzelnen Musikdarbietungen, getragen wird. Es sind Puzzlestücke, die sich zu einem neuen Bild zusammen fügen, welches anders und doch gleich ist. Es bleiben aber auch Fragmente und Bruchstücke. Diese unvollständigen Teile erschaffen ein stärkeres Bild als die Vollständigkeit und Bruchlosigkeit es könnte. Der Film soll die Fragmente, aus denen sich das Leben zusammensetzt, abbilden. Und trotzdem wird man, nachdem man den Film gesehen hat, mit einem Gefühl eines Ganzen das Kino verlassen, welches einem das Herz brechen wird.

Es war mir dabei wichtig, den Mythos von ORPHEUS und EURYDIKE mit umgekehrten Gender-Rollen zu erzählen, also mit ORPHEA, die EURYDIKO vor der Unterwelt rettet. Diese simple Idee macht ORPHEA kraftvoller und gibt dem Film eine heutige, zeitgenössische Stimme. Ganz besonders, nachdem ich die wunderbare Lilith Stangenberg getroffen habe. Diese Zeilen und das Drehbuch habe ich unmittelbar nach unserem ersten Treffen niedergeschrieben.

Alexander Kluge, geboren 1932 in Halberstadt. Er studierte Rechtswissenschaften, Geschichte und Kirchenmusik und ist als Autor und Filmemacher tätig. 1962 war Kluge Mitinitiator des Oberhausener Manifests. 1966 entstand sein erster Langspielfilm ABSCHIED VON GESTERN. Sein jüngster abendfüllender Film HAPPY LAMENTO – ebenfalls mit Khavn – wurde 2018 auf den Filmfestspielen in Venedig aufgeführt. Ende der 1980er-Jahre widmete Kluge sich dem Fernsehen und gründete 1988 die Produktionsfirma dctp (Development Company for Television Programs), durch die er eigene Fernsehformate entwickelte.

Eine Notiz von Alexander Kluge

Mir und Khavn geht es um folgende Schwerpunkte(: und Wichtigstes). Die Gewalt und Macht der Musik; „Ich setze mein Leben ein für das, was ich liebe“. Ich rette denjenigen, den ich liebe, um jeden Preis. Musik und Liebe sind Kräfte, die den Tod besiegen;

Es ist nicht gesagt, dass Eva wirklich aus der Rippe Adams entstand. Wir glauben, dass Musik, Vernunft und die stärksten Emotionen, die uns bewegen, aus der Rippe Evas kommen. Aus dieser Überzeugung resultiert die Umkehrung von Orpheus in ORPHEA.

Liebe und Musik sind keine bloßen Konsumgüter. Dass das keine Phrase ist, zeigen viele Parallelgeschichten zu Orpheus und Eurydike, die zu anderen Zeiten und in anderen Konstellationen handeln. In Beethovens einziger Oper, die im Original von 1806 inmitten der Französischen Revolution handelt, ist ein junger Revolutionär, der junge Mann Leonores, von einem seiner Widersacher in einen Kerker gesperrt. Dort soll er vermodern oder besser ermordet werden. Leonore, seine Frau, verkleidet sich als Mann und Gefängnisgehilfe, rettet dem, den sie liebt, das Leben und befreit ihn. Das geschieht erfindungsreicher und wirkungsvoller als in dem antiken Mythos, wenn Eurydike nur aus der Unterwelt, nicht aus einem politischen Kerker, herausgeholt wird.

Für diesen Film sind solche Geschichten mit der „Macht der Musik“ verbunden. In der ersten Oper der Welt, Monteverdis Orfeo von 1607, gilt die schönste Musik der Überwältigung des Höllenhundes. Erst dadurch kann Orpheus Eurydike befreien. In seiner kürzesten Erzählung „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik“ hat Heinrich von Kleist gegenüber radikalen Bilderstürmen und Volksverhetzern die Zauberkraft der Musik beschrieben. Freiwillig gehen die Aufrührer kraft der Macht der Musik ins Irrenhaus und singen bis zu ihrem Lebensende die Songs und Töne, die ihren Terror beendeten. Musik hat ihre Aggressionen besiegt.

Solche Geschichten sind nicht die Handlung des Films, aber sie begleiten die Szenen, in der die Darsteller ihre Rollen spielen. In der Regel in Form kleiner Musikstücke mit freier Bildfolge. Eine starke Rolle bei der Realisierung des Films spielen die Merkwürdigkeiten, die die Quellen des Orpheus- und Eurydike-Mythos zeigen. Das, was als Stachel der menschlichen Gefühle widerstreitet und das, was der Vernunft nicht gehorcht. Diese Besonderheiten, die man schwer versteht, sind das Beste an der Geschichte und weisen auf etwas hin, wovon wir wenig wissen: Orpheus darf sich, wenn er Eurydike an die Oberwelt holt, auf keinen Fall zu ihr umdrehen. Man versteht das nicht, weil man seinen liebevollen Blick, der sich vergewissern will, dass sie wirklich nicht tot ist, verstehen kann. Warum diese strikten Verbote?

Warum wird Orpheus am Ende seines Lebens von wilden Frauen in Thessalien enthauptet: in den Flüssen Griechenlands schwimmt sein Haupt, dann übers Meer bis zur Insel Lesbos. Warum wird der Musiker geköpft? Wie kommt es, dass sein Haupt immer noch singt?

Was bedeutet der Schlangenbiss am Fuß der Eurydike?

Apoll ist der Vater von Orpheus (von Eurydikes göttlicher Abkunft ist nicht die Rede, dem müssen wir nachgehen!). Apoll ist ein Gott, der mit der Zukunft zu tun hat. Er ist ein Gott der Mathematiker (so wie sie heute in Silicon Valley ihre Algorithmen wie Götter dichten). Apoll ist ein wissenschaftlicher, ein digitaler Gott. Außerdem Herr der Musen. Aber auch eifersüchtig und grausam. Hätte er eine Tochter, wäre das Orphea. Was übernimmt sie vom Vater? Was ist neu?

Wir sollten nicht einfach weiterleben auf der Basis der mythischen Vorgeschichten. Man soll sie immer neu und anders erzählen: nicht, weil wir abwechseln wollen, sondern weil auf dem Grunde der Mythen ganz andere Geschichten auf ihre Erzählung warten. Bei all diesen Punkten, von denen einige als Geschichten erzählt werden, fliegt es sich gut „auf den Flügeln der Musik“. Ein wesentliches Element des Films ist eine Sammlung der schönsten Trauerlieder („Lamenti“) der Welt. Der Film ORPHEA handelt von der Trauer und verlorenem Glück. Es gibt aber den Unterschied zwischen passivem Klagegesang und aktiver Trauer. Das Schönste ist, das Verlorene zurück zu holen. Das ist der menschlichen Emotion eingraviert und Grund aller Revolutionen: das wiederzuholen, was verlorenging. In einem der Lieder Franz Schuberts sagt der Wanderer: „Mein Vaterland ist, wo meine Toten auferstehen“.

Lilith Stangenberg spielt nicht eine, sondern mehrere Rollen. Auch andere Darsteller und Musiker werden nicht an der einen allseits bekannten Handlung von Orpheus und Eurydike festkleben. Dieses Gefühl, dass wir dem Tod unterworfen sind, aber die Liebe sich niemals damit abfinden wird, und dass in den kühnen Griffen der Musik Zauberkräfte stecken – das ist ein Kinothema für jede Periode der Filmgeschichte. 90 Minuten Musik und starke Emotionen und eine Brücke zwischen Manila und Deutschland, die überraschen wird.

Lilith Stangenberg in der Rolle als Orphea

Ein Brief von Lilith Stangenberg

Vor etwa drei Jahren entdeckte ich die Filme von Khavn de la Cruz. Zuerst sah ich „Ruined Heart“ und die Schönheit und Grausamkeit dieses Filmes, dieser Liebesgeschichte, haben einen großen Eindruck auf mich gemacht. Der Film mit seinen lebendigen ungewöhnlichen Bildern, seinem Trieb, Unruhe und Verwirrung zu stiften und den Zuschauer rein zu locken in dieses dunkle Labyrinth der Liebe, aus dem nichts herausführt, wo das Leben plötzlich zum Malstrom wird und der Zuschauer die Liebhaber dabei beobachtet wie sie die verschiedenen Kapitel und Räume einer Liebesgeschichte durchmachen.

Das ineinander Verschlungen-Sein, dieses gemeinsame Paradies, was plötzlich zum gemeinsamen Käfig wird und schließlich, wie vielleicht jeder utopische Versuch wirkliche Nähe zu finden, im Tod endet. Ich bin im hintersten Winkel meines Herzens Romantikerin und vielleicht deshalb berührt mich dieses Ende und es ist, als würde diese Liebe dadurch geadelt, zu etwas Erhabenem werden.

Ich habe mir dann viele Filme von Khavn angeguckt und bin jedes Mal überrascht worden. Von den Farben, den Körpern, den Gesichtern. Von der Unverbrauchtheit der Bilder. Vor allem aber davon, wie viel Wahrheit aus ihnen spricht. Die Filme bewegen sich wie hungrige Tiere und wirken anstiftend.

Dass es für mich nun zu dieser Begegnung mit Khavn und dann auch noch mit Alexander Kluge und Rapid Eye Movies kam und wir hier jetzt über ORPHEA sprechen, bedeutet mir sehr viel und meine Freude darüber passt in keine Buchstaben.

ORPHEA verhandelt eine rückhaltlose Liebe oder noch mehr — die Sehnsucht danach. Nach Liebe als einem Ort, wo wirkliche Nähe stattfindet. Orpheas und Eurydikos Liebe ist nicht anschmiegsam, sie verbeißen sich ineinander.

Mir gefällt, wie Orphea dieses Gefühl vor allen möglichen Instanzen wieder und wieder verteidigt. Wie die Kreaturen dieses „Tinder“- Zeitalters ihr weis machen wollen, dass das, woran sie festhält womöglich gar nicht existiert und wie viel bequemer doch der Weg der moderaten „Begegnung“ wäre.

Doch Orphea kämpft, sie kriecht durch die Katakomben der Unterwelt auf der Suche nach Eurydiko, bis sie ihn findet. Und auch wenn diese Geschichte mit Trennung und dem Tod als radikalster Form davon endet, hat Orphea am Ende alles gewonnen. Sie hat den Dämonen der Dekadenz ins Gesicht gesehen und ihren eigenen Weg gefunden, weiter zu gehen auf den eigenen emotionalen Trümmern und am Ende wird ihr eine neugeborene Welt geschenkt. Orphea als weibliche Figur verkörpern zu können, scheint mir sehr attraktiv, weil ich so vieles sein darf. Das begegnet mir in Drehbüchern nur selten.

Sie ist Rocksängerin, Verführerin, Ikone, treue Liebende, Märtyrerin und Besessene. Und dass es eine Frau ist, die die Wächter der Unterwelt überlistet – und zwar nicht durch ihr Talent oder ihre Tricks oder Manipulation, sondern durch ihre Wahrhaftigkeit – das ist es, was Orphea für mich zu einer so modernen Frauenfigur macht. Am Ende siegt doch das Gefühl.

Quelle: Rapid Eye Movies