MMK1: Claudia Andujar. Morgen darf nicht gestern sein Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main: 18. Februar - 25. Juni 2017


Die Ausstellung „Claudia Andujar. Morgen darf nicht gestern sein“ gibt erstmals in Europa einen umfangreichen Einblick in das fotografische Œuvre von Claudia Andujar (*1931 in Neuchâtel, Schweiz). Die Künstlerin und Aktivistin lebt seit 1955 in São Paulo in Brasilien. Anfänglich ohne Kenntnisse der portugiesischen Sprache bot ihr die Fotokamera eine Möglichkeit, durch Bilder zu kommunizieren. Ihre fotografische Praxis ist seit den 1960er-Jahren eng mit der jüngeren Zeitgeschichte Brasiliens sowie den Gegensätzen und Konflikten des Landes verknüpft.

Als Fotografin arbeitete Andujar zunächst für verschiedene brasilianische und US-amerikanische Magazine. 1971 führte sie eine ihrer Reisen in das Amazonasgebiet zu dem indigenen Volk der Yanomami. Seither engagiert sich Andujar für den Schutz dieses durch die Invasion ihres Lebensraumes bedrohten Volkes. Im Rahmen ihres aktivistischen Engagements entstand in den frühen 1980er-Jahren ihre bis heute wichtigste Serie „Marcados“ (dt. Markiert). „Andujars Bildserien sind das Ergebnis ihrer Reisen zwischen der südlichen Metropole São Paulo und dem nördlich gelegenen Amazonasgebiet. Sie schaffen ein Panorama Brasiliens zwischen Stadt und Natur. Künstlerische Praxis und aktivistisches Engagement sind in den Aufnahmen untrennbar miteinander verknüpft“, so Peter Gorschlüter, stellvertretender Direktor des MMK Museum für Moderne Kunst, über die Ausstellung.

Andujar selbst lebte über mehrere Jahre mit den Yanomami und gründete 1978 gemeinsam mit Bruce Albert und Carlo Zacquini die „Comissão pela Criação do Parque Yanomami“ (heute: „Comissão Pró-Yanomami“) zur Verteidigung des Lebens und Territoriums der Yanomami. Anfang der 1980er-Jahre startete die Kommission eine Impfkampagne, für die Andujar Porträtaufnahmen der Yanomami in verschiedenen Dörfern im Amazonasgebiet machte. Da die Yanomami traditionell keine Namen verwenden – sie sprechen sich mittels Familienrelationen an –, wurden ihnen zur Identifizierung für den Impfausweis Nummern um den Hals gehängt. Den Titel „Marcados“ erhielten die Fotografien erst über 20 Jahre später, als sie 2006 erstmals auf der Biennale von São Paulo gezeigt wurden. Die Bilder von mit Nummern markierten Personen wecken historische Erinnerungen, die aufs engste mit Andujars eigener Biografie verknüpft sind. Während sie selbst und ihre Mutter dem Holocaust entfliehen konnten, wurde ihre gesamte jüdische Familie väterlicherseits im Konzentrationslager ermordet. Claudia Andujar: „Das waren für mich die für den Tod Markierten. Was ich versucht habe mit den Yanomami zu machen, war, sie für das Leben, für das Überleben zu markieren.“

Andujars Werk findet seither große Beachtung im südamerikanischen Kontext. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des andauernden Einfalls von Goldminenarbeitern in das Gebiet der Yanomami, der anhaltenden Proteste in Brasilien und der kürzlich verkündeten Klima-Ziele des Landes zeichnet sich Andujars Werk bis heute durch eine hohe Aktualität und Brisanz aus. Im Titel der Ausstellung „Morgen darf nicht gestern sein“ spiegelt sich angesichts wiederkehrender politischer Ereignisse und gesellschaftlicher Entwicklungen in Brasilien die Botschaft der Künstlerin an die Gegenwart wider.

In verschiedenen Werkreihen zeichnet die Fotografin ein kontrastreiches Bild Brasiliens. „Immer wieder treten in Andujars fotografischen Serien die verschiedenen Lebensräume in Dialog miteinander. Aus einem Hubschrauber aufgenommen zeigt „Metrópole“ das modernistische Straßennetz São Paulos, „Urihi-a“ einen von Natur gesäumten Shapono, der Rundbau, in dem die Yanomami leben, und „Cemitério da Consolação“ den Ende des 19. Jahrhunderts errichteten Friedhof in São Paulo, dessen Wegenetz rund um das zentrale Mausoleum angelegt ist. Das Straßennetz, die Natur und die Friedhofswege erscheinen endlos“, erläutert Carolin Köchling, Kuratorin der Ausstellung.

In ihren Bildern schreiben sich nicht nur die abgebildete Person oder der abgebildete Gegenstand ein, sondern immer auch Andujars Position als deren Gegenüber. Für die Aufnahmen der Serie „Rua Direita“ (1970) setzte sich Andujar auf die gleichnamige belebte Straße in São Paulo und fotografierte die Passanten aus einer starken Untersicht. Was im Bild nahezu inszeniert wirkt, ist die spontane Reaktion auf die unerwartete Begegnung mit der Person der Fotografin, die in den erschrockenen, distanzierten, neugierigen oder verwunderten Gesichtern sichtbar ist. In der Serie „Através do Fusca“ hingegen verkörpern die Fenster eines VW Käfers, aus dem die Künstlerin 1976 eine Reise von São Paulo ins Amazonasgebiet fotografierte, die für ihr Schaffen charakteristische Einschreibung ihrer eigenen Position in die Bilder.

Eine Auswahl von Andujars Arbeiten sind in der Ausstellung im MMK auf Cavaletes präsentiert – in Betonsockeln fixierte Glasdisplays, die von der brasilianisch-italienischen Architektin Lina Bo Bardi 1968 für das von ihr gebaute MASP (Museu de Arte de São Paulo) entworfen wurden. Die Präsentationsform unterstreicht den dialogischen Charakter von Andujars Fotografien, die dem Betrachter im Raum auf Augenhöhe begegnen.

Neben Andujars fotografischen Arbeiten werden in der Ausstellung Originalzeichnungen der Yanomami präsentiert, die im Rahmen eines von Andujar initiierten Projektes 1976 entstanden und in der Publikation „Mitopoemas Yãnomam“ (Mythische Gedichte der Yanomami) veröffentlicht wurden. Diese stellt Erzählungen und Zeichnungen der Yanomami in einen Dialog mit Andujars Fotografien.

Seit der Eröffnung des MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main im Jahr 1991 nimmt die Fotografie im Ausstellungsprogramm und in der Sammlung eine herausragende Stellung ein. Heute sind mehr als 80 Künstlerinnen und Künstler mit über 2500 fotografischen Werken in der Sammlung vertreten. Von Beginn an wurden künstlerische Fotografie einerseits und Dokumentarfotografie anderseits im MMK nicht voneinander abgegrenzt, sondern vielmehr ihre inhaltlichen wie formalen Verwandtschaften gesucht, die in der Kraft des fotografischen Bildes zum Ausdruck kommen. Vor allem Werke, die im bildjournalistischen Zusammenhang oder als Reportagefotografie entstanden, bildeten früh eine Möglichkeit, soziale und gesellschaftliche Realitäten jenseits nationaler Grenzen und Zuordnungen im Kontext der Gegenwartskunst zu reflektieren. Der künstlerisch-subjektive Blick auf das Globale, den die Fotografie befördert hat, durchdringt heute zahlreiche Bereiche des Museums und prägt im Wesentlichen seine internationale Ausrichtung. Dabei stehen vor allem diejenigen Ansätze im Fokus, bei denen sich innerhalb einer globalen Perspektive künstlerische Verbindungslinien zwischen Geschichte und Gegenwart, europäischer und außereuropäischer Verortung ziehen lassen. Claudia Andujars Leben und Werk stehen exemplarisch für diese Entwicklung und inhaltliche Positionierung.

Kuratorin: Carolin Köchling, in Zusammenarbeit mit Peter Gorschlüter
Projektentwicklung: Dr. Paula Macedo Weiß

Ermöglicht durch
Kooperationspool der Stadt Frankfurt und Deutsche Börse Photography Foundation gGmbH

Mit Unterstützung von
Brasilianisches Außenministerium, Itamaraty; Generalkonsulat von Brasilien; Goethe-Institut, São Paulo; Schweizerisches Generalkonsulat in Frankfurt am Main

Eröffnung: Freitag, 17. Februar 2017, 19 Uhr im MMK 1
mit einem Kurzvortrag von Dr. Katharina von Ruckteschell-Katte, Leiterin Goethe-Institut São Paulo und Region Südamerika.

Das auf der Einladungskarte angekündigte Künstlergespräch am 18.2.2017 entfällt.

Claudia Andujar (*1931 in Neuchâtel, Schweiz) zählt zu den bedeutendsten Vertreterinnen der künstlerisch-dokumentarischen Fotografie Südamerikas. Im Rahmen ihres aktivistischen Engagements zum Schutz und Erhalt der Yanomami, Brasiliens größtem indigenen Volk, entstand in den 1970er-Jahren ihre bis heute wichtigste Serie „Marcados“ (dt. Die Markierten). Diese Portraits sind der Beginn einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit der Kultur der Yanomami.

Darüber hinaus umfasst die Publikation fotografische Werkgruppen von den 1960er-Jahren bis heute. In den eindrucksvollen Bildserien tritt der Mensch in seinem Verhältnis zu Gesellschaft und Politik, Stadt und Natur in einen engen Dialog mit dem subjektiven Blick der Fotografin. In einem begleitenden Interview mit der Kuratorin Carolin Köchling gibt die Künstlerin einen tiefen Einblick in ihr Schaffen und Werk.

Das Buch erscheint im Februar begleitend zu der Ausstellung im MMK: Claudia Andujar. Morgen darf nicht gestern sein, Bielefeld: Kerber Verlag

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