Es ist ein landschaftsarchitektonisches Pionierprojekt mitten in Hamburg – und künftiges Vorbild für die Klimaanpassung von internationalen Millionenmetropolen. Wissenschaftler begleiten die imposante Begrünung des Bunker St. Pauli. Mit Sensoren erheben sie begehrte Daten zu Wärmedämmung und Kühleffekten. Seit dem 5. Juli ist das grüne Leuchtturmprojekt für die Allgemeinheit kostenlos geöffnet.
In den vergangenen fünf Jahren wurde der Bunker St. Pauli, einer der größten Hochbunker Deutschlands, um fünf pyramidenartige Geschosse erweitert und mit 4.700 Bäumen, Gehölzen und Sträuchern, 16.000 Stauden sowie vielen Kletterpflanzen bepflanzt. Es sind sorgfältig ausgewählte Pflanzenarten, die vor allem im nordeuropäischen und alpinen Raum beheimatet sind und Frost, Hitze und Sturm in mehr als 50 Meter Höhe aushalten, so Frank Schulze, Sprecher des Bauherrn Matzen Immobilien. „Ein englischer Garten würde nicht zu St. Pauli passen. Also wird es hier auf dem Bunkerdach natürlich und urwüchsig aussehen, ein wenig wild, ein bisschen zerzaust.“ Zu den Pflanzen zählen u.a. Obstbäume, Strauch-Waldkiefern, Felsenbirnen, Zoeschner Ahorn, Lorbeer-Kirsche, Stechpalme, Feldahorn, Efeu und Rosenstöcke. Die größeren Gehölze werden zusätzlich unterirdisch verankert, um sie gegen Windstoß zu sichern, ein Landschaftsgärtnerteam mit Industriekletterern wird regelmäßig für die Pflege des Stadtgartens im Einsatz sein. Ein nachhaltiges temperaturgesteuertes Be- und Entwässerungskonzept reduziert die Regenwassermengen, die normalerweise dem öffentlichen Siel zufließen würden, um gut 75 Prozent.
Der grüne Bunker gilt als neues spektakuläres Highlight im Hamburger Stadtbild: ein öffentlich frei zugänglicher Dachgarten in 58 Meter Höhe, mit insgesamt mehr als 10.000 Quadratmeter Grün-, Fassaden- und Gemeinschaftsflächen. Zudem gibt es Räume für Stadtteilkultur, Ausstellungsflächen, Urban-Gardening-Möglichkeiten, Unterkünfte für Stipendiaten und Künstler, eine moderne Dreifeldhalle für Schulsport und Kulturveranstaltungen sowie ein „Reverb by Hard Rock“-Hotel mit 134 Zimmern. Und: Zum ersten Mal erhält der historische Ort einen Erinnerungs- und Informationsort. Im ehemaligen Leitstand und an anderen Stellen im Bestandsbau erinnert die Nachbarschaftsinitiative Hilldegarden e.V. an die Opfer des NS-Regimes und des Zweiten Weltkriegs. Das außergewöhnliche Projekt vereint ökologische, kulturelle und historische Aspekte. Panoramablick auf Elbphilharmonie, Michel und Hafen inklusive.
Angesichts der Konzepts fühlen sich Architekturkritiker an die „Hängenden Gärten der Semiramis“ erinnert, die „Seite Drei“ der „Süddeutschen Zeitung“ lobt den „Mut“ und die unternehmerische „Kühnheit“ des Vorhabens und sieht das Projekt im „Reigen spektakulär begrünter Bauwerke“ auf einem „Spitzenplatz unter den weltweiten Attraktionen“.
Das Interesse daran ist weltweit groß. Landschaftsarchitekten sehen im grünen Bunker St. Pauli ein wichtiges Leuchtturmprojekt für die ökologischen Herausforderungen, denen sich besonders auch Großstädte jetzt stellen müssen. Denn Hitzewellen, Dürren, Starkregen und Luftverschmutzung betreffen besonders auch internationale Millionenmetropolen. Eine der drängendsten Fragen, die auch der aktuelle UN-Klimabericht 2022 erstmals in einem eigenen Kapitel aufgreift: Wie kann die Erhitzung der Großstädte gestoppt werden? Um die Effekte einer Begrünung exakt zu belegen, sind in Kooperation mit Wissenschaftlern der TU Berlin im gesamten Bunker Sensoren installiert, die fünf Jahre lang Daten zu Verdunstungskälte und Wärmedämmung erfassen. Die Erkenntnisse über die Wirkung der Pflanzen auf das Gebäude werden ausgewertet und können künftig ähnlichen Vorhaben zur Verfügung gestellt werden.
Die Realisation dieses faszinierenden Traums erfolgt von Beginn an in enger Abstimmung mit dem Denkmalschutz und bedeutet auch für die verantwortlichen Bauexperten des Planungs- und Ingenieursbüros phase 10 eine konzeptionelle Herausforderung: Die imposante Tragkonstruktion wiegt insgesamt etwa 33.500 Tonnen – was dem Gewicht von 60 vollbeladenen Airbus A380 entspricht. Der Lastabtrag der Aufstockung erfolgt ausschließlich über 16 massive „Geilinger Stützen“ auf den bis zu 4,5 m dicken Bunkeraußenwänden.
Ein bepflanzter, fünf Meter breiter „Bergpfad“ führt Besucher nach oben. Der fast 600 Meter lange Weg beginnt ebenerdig beim heutigen Haupteingang am der Nordseite und führt an den Bunker-Außenfassaden entlang hoch zum Dachgarten. Mit den verschiedenen Perspektiven in alle Himmelsrichtungen beginnt das eindrucksvolle Erlebnis zum Dach des grünen Bunkers. Gehalten wird der Pfad von 24 Stahltragarmen; jeder wiegt etwa 5,5 Tonnen und wird mit mehreren, jeweils zwei bis drei Metern langen Gewindestangen in der Außenfassade befestigt. Das Bodenfundament des späteren Weges bilden etwa 20 cm hohe Spannbetonplatten mit einem zusätzlichen 24 cm hohen Aufbau. Darauf wird das Substrat für die Begrünung aufgebracht. Ein barrierefreier Zugang zum Stadtgarten ist über die neu errichteten Außenfahrstühle möglich.
Die Pläne für diese weltweit einzigartige Aufstockung sind in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Das liegt auch an den Ausmaßen des früheren Flakturms IV: mit rund 75 mal 75 Meter die Grundfläche ist der Weltkriegsbau ein Monolith. 1942 wurde er in etwa 300 Tagen unter Einsatz von Zwangsarbeitern erbaut. Der graue Koloss sollte zunächst vor allem der Flugabwehr dienen, zudem nutzte das NS-Regime die fast ikonische Festung als Propaganda-Instrument. Während des Zweiten Weltkrieges fanden Zehntausende Hamburger Schutz vor alliierten Luftangriffen. Bereits in den Nachkriegsjahren siedelten sich erste Medienmacher wie Axel Cäsar Springer in dem Bunker St. Pauli an. Im Dezember 1952 sendete der NDR, damals noch NWDR, die erste „Tagesschau“ vom Heiligengeistfeld. Was kaum einer weiß: Auch die erste TV-Ausstrahlung der legendären „Augsburger Puppenkiste“ wurde 1953 von hier live gesendet. 1975 gründete der Hamburger Modefotograf F.C. Gundlach im Bunker die weltweit renommierte Firma PPS. „Selbst in Amerika war der Bunker als Künstlertreff bekannt“, sagte die Fotografenlegende einmal. Seit den 90er Jahren besitzt Matzen Immobilien das Erbpachtrecht für den Bunker und hat den heutigen Mietermix von Unternehmen aus Medien, Kultur und Kreativwirtschaft geschaffen. Sie werden hier auch nach der Aufstockung unverändert ihre Heimat haben.
Die Verwirklichung der landschaftsarchitektonischen Vision einer bepflanzten Aufstockung gilt als Paradebeispiel gelungener Bürgerpartizipation. „Das Projekt ist großartig, weil es als spektakuläre Begrünungsaktion einen tollen Kontrast in der Stadtarchitektur darstellt“, sagte der frühere Alleinvorstand der Stiftung Historische Museen Hamburg, Börries von Notz. Seit der ersten Idee einer Nachbarschaftsinitiative, 2014, arbeiten Anwohner, Architekten und der Bauherr an Realisierung eines grünen Bunkers. Jeder war zur Beteiligung eingeladen, in öffentlichen Veranstaltungen wurde informiert und Machbarkeiten diskutiert. Ziel war u.a. die Schaffung öffentlicher Flächen, Raum für umweltbewusste Modellprojekte und der ökologische Nutzen, um die Folgen des Klimawandels abzumildern. An der Umsetzung ist neben dem Bauherrn Matzen Immobilien KG eine Vielzahl weiterer Hamburger Unternehmen mit einbezogen, für die der Bunker St. Pauli in der eigenen Heimatstadt Herzenssache ist. Dazu zählen u.a. das Landschaftsarchitekturbüro L+, die traditionsreiche Baumschule Lorenz von Ehren, der Landschaftsgärtner Hildebrandt, der Hotelbetreiber RIMC und viele weitere norddeutsche Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe. Nicht zu vergessen der Hallenbetreiber Wolf von Waldenfels, Macher des renommierten und mehrfach für sein Programm ausgezeichneten Szene-Clubs „Uebel & Gefährlich“. Insgesamt arbeiten etwa 180 Menschen und 25 Gewerke für die Vision des „grünen Bunkers“.
Die vom Bauherrn Matzen Immobilien KG privat finanzierten Kosten betragen etwa 100 Millionen Euro. Auch die Kosten für die Pflege des öffentlichen Stadtgartens trägt der Bauherr.
Foto u. Meldung (c) Frank Schulze Kommunikation, Hamburg
Siehe auch: Baubeginn für Hamburgs längsten „Bergpfad“