Der Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat die polnisch-amerikanische Historikerin und Publizistin Anne Applebaum zur diesjährigen Trägerin des Friedenspreises gewählt. In der Begründung des Stiftungsrats, dessen Vorsitzende Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs ist, heißt es:
„Anne Applebaum hat mit ihren so tiefgründigen wie horizontweitenden Analysen der kommunistischen und postkommunistischen Systeme der Sowjetunion und Russlands die Mechanismen autoritärer Machtergreifung und -sicherung offengelegt und sie anhand der Dokumentation zahlreicher Aussagen von Zeitzeug*innen verstehbar und miterlebbar gemacht. Mit ihren Forschungen zur Wechselwirkung von Ökonomie und Demokratie sowie zu den Auswirkungen von Desinformation und Propaganda auf demokratische Gesellschaften zeigt sie auf, wie fragil diese sind – besonders wenn Demokratien von innen, durch Wahlerfolge von Autokraten, ausgehöhlt werden. Historiographische Erkenntnisse mit wacher Gegenwartsbeobachtung zu verbinden, das gelingt Anne Applebaum in ihren Veröffentlichungen über autokratische Staatssysteme und deren international wirkende Netzwerke. In einer Zeit, in der die demokratischen Errungenschaften und Werte zunehmend karikiert und attackiert werden, wird ihr Werk zu einem eminent wichtigen Beitrag für die Bewahrung von Demokratie und Frieden.“
Anne Elizabeth Applebaum zählt zu den wichtigsten Analytiker*innen autokratischer Herrschaftssysteme. Sie gilt als große Expertin der osteuropäischen Geschichte und hat schon früh vor einer möglichen gewaltvollen Expansionspolitik Wladimir Putins gewarnt. Für ihre Bücher wie „Der Gulag“ (2003), „Der Eiserne Vorhang“ (2012), „Roter Hunger“ (2019) und die „Die Verlockung des Autoritären“ (2021), in denen sie den Mechanismen autoritärer Machtsicherung nachspürt, hat sie international große Aufmerksamkeit erhalten und wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Pulitzer-Preis 2004 und zuletzt mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis 2024.
Geboren am 25. Juli 1964 in Washington D. C. als Kind jüdischer Eltern, studiert Anne Applebaum zunächst an der Yale University Russische Geschichte und Literatur, bevor sie in London und Oxford ihren Schwerpunkt auf Internationale Beziehungen setzt. 1988 beginnt sie ihre journalistische Karriere als Auslandskorrespondentin in Polen für die britische Zeitschrift „The Economist“, für die sie vor Ort auch über den Fall der Berliner Mauer berichten kann. Anschließend arbeitet sie für weitere britische Zeitungen wie den „Spectator“, „Evening Standard“, „Daily Telegraph“ und „Sunday Telegraph“. 2002 wird sie für vier Jahre Mitglied im Herausgebergremium der „Washington Post“, für die sie bis 2019 als Kolumnistin tätig ist. Seitdem schreibt sie vornehmlich für die US-amerikanische Zeitschrift „The Atlantic“.
2012 übernimmt Anne Applebaum für ein Jahr den Philippe-Roman-Lehrstuhl für Geschichte an der London School of Economics and Political Science (LSE) und wird zuvor, 2011, Direktorin des „Transitions Forum“ am Londoner Legatum Institute, einem internationalen Think Tank, für den sie unter anderem ein zweijähriges Programm leitet, das die Wechselwirkung von Demokratie und Wachstum in Brasilien, Indien und Südafrika untersucht. Gemeinsam mit dem Magazin „Foreign Policy“ entwickelt sie das „Democracy Lab“, das darstellt, wie Staaten demokratischer bzw. autokratischer werden. Mit dem „Beyond Propaganda“-Programm, das 2014 mit einer Serie von Sendungen über Propaganda und Desinformation startet, nimmt sie die heutigen Debatten über Fake News vorweg. Wegen der zunehmenden euroskeptischen Haltung des Legatum Institute wechselt sie 2017 als „Professor of practice“ zurück an die LSE. 2019 verlegt sie ihr dort konzipiertes Programm „Arena“ über Desinformation und Propaganda im 21. Jahrhundert an das Agora-Institut der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland.
Anne Applebaum, die mit Unterbrechungen seit 30 Jahren in Polen lebt, besitzt seit 2013 neben der US-amerikanischen auch die polnische Staatsbürgerschaft. Seit 1992 ist sie mit dem polnischen Politiker Radosław Sikorski verheiratet, der von 2007 bis 2014 Außenminister war und dieses Amt 2023 wieder übernommen hat. Das Paar hat zwei Söhne.
Neues Buch: Wie Xi Jinping, Putin, Chamenei & Co. sich Geld, Macht und Straffreiheit verschaffen und zugleich unsere Demokratie zerstören: Eine hochaktuelle Analyse der neuen autoritären Netzwerke
Autokratische Herrschaft besteht im 21. Jahrhundert nicht länger nur aus einem Tyrannen an der Spitze, der mit Gewalt sein Volk unterdrückt: Heute werden Autokratien durch ausgeklügelte Netzwerke geführt, es hat sich eine neue internationale autokratische Allianz gebildet, wie Bestsellerautorin Anne Applebaum in ihrem neuen Buch zeigt. Von China bis Weißrussland, von Syrien bis Russland unterstützen sich Autokraten von heute gegenseitig mit Ressourcen und Equipment made in Iran, Myanmar oder Venezuela: von Propaganda-Trollfarmen und Bots über Investitionsmöglichkeiten für ihre korrupten Staatsunternehmen bis hin zum Austausch modernster Überwachungstechnologien. Applebaum offenbart, wie die Diktatoren der Welt hinter den Kulissen zusammenarbeiten und sich mit aggressiven Taktiken gegenseitig Sicherheit und Straffreiheit verschaffen. Und sie macht deutlich, wie diese autokratische Allianz unsere Demokratie untergräbt
Dem Stiftungsrat gehören an: Klaus Brinkbäumer, Prof. Dr. Raphael Gross, Prof. Dr. Moritz Helmstaedter, Dr. Nadja Kneissler, Jagoda Marinić, Prof. Dr. Ethel Matala de Mazza, Dr. Mithu M. Sanyal, Christiane Schulz-Rother sowie Karin Schmidt-Friderichs.
Irina Scherbakowa, russische Germanistin, Historikerin und Menschenrechtlerin hält die Laudatio auf Anne Applebaum. Die Verleihung findet während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, den 20. Oktober 2024, in der Frankfurter Paulskirche statt und wird live um 10:45 Uhr in der ARD übertragen. Der Friedenspreis wird seit 1950 vergeben und ist mit 25.000 Euro dotiert.
Irina Lasarewna Scherbakowa wurde 1949 in Moskau als Tochter jüdischer Eltern geboren. Nach Studium und Promotion arbeitete sie zunächst als Übersetzerin deutschsprachiger Belletristik und als Redakteurin der Literaturzeitschriften Sowjetliteratur und Literaturnaia gaseta. Anfang der 1980er Jahre zeichnete sie Gespräche mit Überlebenden des Gulags auf und war 1989 an der Gründung der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Organisation Memorial beteiligt, die sich für eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Stalinismus in der ehemaligen Sowjetunion einsetzte. Scherbakowa zählt zu den bekanntesten Menschenrechtler*innen Russlands und der früheren Sowjetunion.
Ab 1996 arbeitete sie zehn Jahre als Dozentin an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften in Moskau. Zu ihren Forschungsgebieten zählten neben der Beschäftigung mit dem Gulag und sowjetischen Speziallagern auf deutschem Boden Oral History, Totalitarimus und Stalinismus sowie Erinnerungspolitik und kulturelles Gedächtnis in Russland.
Zu Scherbakowas wichtigsten Schriften gehören „Nur ein Wunder konnte uns retten. Leben und Überleben unter Stalins Terror“ (2000), „Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise“ (2015) sowie „Die Hände meines Vaters. Eine russische Familiengeschichte“ (2017).
Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine und der Auflösung von Memorial verließ Scherbakowa ihr Heimatland. Sie lebt heute in Berlin und in Israel und ist Vorstandvorsitzende der in Berlin gegründeten Exilorganisation Memorial Zukunft.
Die auf Scherbakowas Quellenarbeit basierenden Filme und Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Die Wissenschaftlerin nahm verschiedene Forschungsaufenthalte in Berlin, Wien, Salzburg und Jena wahr. Sie gehört unter anderem dem Kuratorium der Gedenkstätte Buchenwald an und ist Mitglied des internationalen Beirats der Berliner Stiftung Topographie des Terrors sowie der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. Irina Scherbakowa wurde wiederholt ausgezeichnet, zum Beispiel 2022 mit dem Marion Dönhoff Preis. Die Laudatio hielt Bundeskanzler Olaf Scholz.