Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn Ein Buch des amerikanischen Neurologen und Gehirnforscher Oliver Sacks


Hinter den einzelnen Berichten steht immer wieder die Herausforderung ungelöster medizinischer und wissenschaftlicher Fragestellungen, die sich der Autor stellt oder für die er Kapazitäten auf seinem Forschungsgebiet herbeizitiert. Einerseits ist das Buch für ein breites Publikum geschrieben worden, zum anderen ist es für Musiker, die diese Veröffentlichung mit höchstem Interesse in Bezug auf das musikalische Gehör und Musikausbildung wahrnehmen dürften. Auch innerhalb der ärztlichen sowie der therapeutischen Betreuung kann das Buch hilfreich sein, um mit unterschiedlichen Fallbeispielen vertraut zu werden. Der Leser kann oftmals nur staunen, welche Einblicke ihm in ein Fachgebiet gewährt werden. Mitreden bleibt dem Laien versagt. Deshalb eignet sich das Buch auch nicht zu Selbstversuchen oder zur Selbstkontrolle, weil die Beispiele aus medizinisch-wissenschaftlicher Distanz geschrieben wurden und nicht auf der Selbsterfahrung des Autors beruhen.

Das neue Buch erscheint zunächst wie ein spannender Roman. Medizinische Inhalte werden prosaisch vermittelt. Nach den ersten Seiten wird jedoch schnell die Tiefe der Problematik deutlich. Besonders wenn der Autor von seinen Patienten berichtet und welche Medikamente zur Beseitigung und Linderung musikophiler Störungen verabreicht werden. Das finde ich bedenklich, weil der Autor Mediziner ist, der mit seinem Buch ein Beispiel setzen will und dabei außer acht läßt welche Wirkung seine Veröffentlichung haben wird. Andererseits gibt es nur wenige Autoren, die sich auf populäre Art mit einer hochinteressanten Thematik wie Gehirnforschung und Musik befassen. Man kann hier vielleicht befürwortend anfügen, daß die anfängliche medikamentöse Verarztung der Patienten abnimmt. Das geschieht zugunsten einer vorwiegend beschreibenden und einen Einblick vermittelnden Darstellungsweise im weiteren Verlauf des Buches.

Was will es damit sein? Eine Art Vermächtnis oder die eigene Forschungsgeschichte des Autors, der Tendenzen an den Tag legt seine eigene Autobiographie zu veröffentlichen. Eine Gesamtübersicht bietet das Buch in jedem Fall nicht, dazu ist die Fachliteratur zu vielfältig und die Forschung nicht weit genug fortgeschritten. Aber es ist der Versuch neue Wissensgebiete einer breiteren Leserschaft näher zu bringen. Zumal die Erfahrungen auf diesem Gebiet jeden einzelnen Hörenden und Nicht-Hörenden individuell betreffen.

Über vier große Teile auf 398 Seiten der gebundenen Ausgabe verfügt der Band von Oliver Sacks, die römisch deklariert sind. Teil I – Von Musik verfolgt – handelt von Krampfanfällen und Epilepsien, die in Zusammenhang mit musikalischen Erfahrungen stehen. Abnorme bisweilen krankhafte Bereiche musikalischer Erfahrung werden beschrieben und behandelt. Musik steckt im Kopf. Ohrwürmer können einen plagen, im übrigen ein Begriff, der anglisiert nach deutscher Vorgabe in die englische Sprache übernommen wurde. Teil II – Spannweite der Musikalität – spielt auf Bereiche im Empfindungsvermögen des Menschen an. Auch hier behält die Perspektive des betreuenden Arztes die Oberhand. Ein Katalog an Patientenberichten erscheint, versehen mit zahlreichen Fußnoten über mehrere Seiten hinweg, so daß ein zweigeteiltes Lesen entsteht. Zum einen ist der Leser mit Fußnoten beschäftigt, zum anderen läuft der Fließtext weiter und muß immer wieder von neuem aufgenommen werden. Das Schriftbild gestaltet sich in der deutschen Ausgabe sehr flüssig. Das kann von Vorteil sein bei der Schwere der Thematik. Der deutsche Titel des Buches geht auf den einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein zurück, für den die großen Komponisten Benjamin Britten, Paul Hindemith, Richard Strauss und Maurice Ravel eigens Stücke für die linke Hand schrieben. Der Originaltitel dagegen ist sachlicher geblieben: Musicophilia: Tales of Music and the Brain (2007)

Das menschliche Hörorgan ist eines der wesentlichen Bestandteile in Oliver Sacks Untersuchung. Cochlea, die Hörschnecke, wird mit einem Saiteninstrument verglichen, das selektiv auf Frequenzen von Tönen gestimmt ist. Etwa acht bis zehn Oktaven umfaßt das menschliche Gehör, die auf dem auditorischen Kortex tonotopisch kartiert werden, wobei kortikale Kartierungen dynamisch sind und sich verändern können. Um jedoch die Töne auch verarbeiten zu können, wird das Gehirn benötigt, das sehr anpassungsfähig ist, was die Signale angeht, die gesendet werden.

Besondere Erwähnung finden die vielen Grenzfälle an Hörschädigungen, genauso außerordentliche Begabungen auf auditivem Gebiet, wie Menschen mit dem sogenannten absoluten Gehör. Diese Sonderfälle, auch Inselbegabung genannt, erwecken beim Leser immer wieder Erstaunen darüber, über welche unglaublichen Fähigkeiten das menschliche Leben verfügt. Manchmal sind es fast geniale Züge. Das genialistische will Oliver Sacks aber mit seinem neuen Buch nicht beantworten, das hat er schon in früheren Büchern getan, wie: Eine Anthropologin auf dem Mars (1995).

Kapitel 8 in Teil I geht auf die Merkwürdigkeit der musikalischen Halluzinationen ein, wovon Menschen und Patienten auf unterschiedlichste Weise betroffen sein können. Ein Grund dafür kann zum Beispiel mangelnde Kommunikation sein. Oder Patienten haben vorher einen Hörverlust erlitten, der zu Tinnitus ähnlichen Erscheinungen führt.

Kapitel 14 in Teil II beschäftigt sich näher mit der Bedeutung von Synästhesie und Musik, ein interessanter Artikel, der sich sowohl in seiner Auseinandersetzung als auch in stilistischer Hinsicht auf einer Ebene bewegt, die neben der Aufzählung verschiedener Fallbeispiele auch eine historische Herleitung auf die Forschungsgeschichte im 19. Jahrhundert veranschaulicht. Wie damals die wissenschaftliche Untersuchung am Phänomen der Synästhesie aufgenommen wurde, was dann, in zeitlicher Folge, wieder durch eine sich verstärkende künstlerische Intention abgelöst wird. Synästhetische Erfahrungen finden sich in vielen Bereichen der Kunst. Ein abschließendes Ergebnis zu diesem Thema wurde noch nicht gefunden.

Teil III – Gedächtnis Bewegung und Musik – spielt die Palette durch, die das Gehirn betreffen. Wie Musik hier oft vom Kopf erfahren wird, das Objekt der Untersuchung. Amnesie steht hier neben Aphasie und Tourette-Syndrom sowie Dyskinesie und sofort. Teil IV – Emotion, Identität und Musik –

Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn
von Oliver Sacks
Übertragen aus dem Amerikanischen von Hainer Kober
Originaltiel: Musicophilia: Tales of Music and the Brain
Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg. 4. Auflage, Juni 2008
398 Seiten, gebundene Ausgabe
ISBN-10: 3498063766
ISBN-13: 978-3498063764
Gewicht: 600g
Größe: 21,8 x 15 x 3,2 cm

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