Modell Hütte (1.Aufl. 2022) von Karin Krauthausen & Rebekka Ladewig Von emergenten Strukturen, schützender Haut und gebauter Umwelt


Am 23. April lief abends in 3sat ein Fernsehbericht von Claudia Müller über die Schweizer Künstlerin Heidi Bucher. Auf der Insel Lanzarote, wo Heidi Bucher sich ab den 1980er-Jahren immer wieder für längere Zeit aufhielt, nahm die Künstlerin zahlreiche Raumhäutungen vor. Sie fertigte architektonische Latexarbeiten und Weichobjekte (Fenster und Türen) mit Bezug zur ortstypischen Architektur Lanzarotes. Sie verstand das Haus in Analogie zum menschlichen Körper: Die Architektur ist die Hülle, die ihn wie eine Haut umgibt und schützt. In der Weiterführung dieser Analogie sind die Fenster die Augen, die den Blick auf die Welt freigeben und die Tür ist der Mund, der das Antlitz des Hauses vervollständigt. Der in der Ausstellung gezeigte Film “Räume sind Hüllen, sind Häute” (1981) zeigt sie bei den Latex-Häutungen im Ahnenhaus ihrer Großeltern. Das Kunstmuseum Bern präsentiert die bisher umfassendste Retrospektive zu Heidi Bucher (1926 – 1993) in der Schweiz vom 08. April bis 07. August 2022

Zwei Beiträge in der vorliegenden Publikation “Modell Hütte” befassen sich mit dem Thema Haut. Zum einen “Schnitt & Naht. Chirurgische Intermediationen in Haut” von Anna L. Roethe. Der Beitrag bezieht sich so gut wie gar nicht auf architektonische Eigenschaften. Das Bild der Haut lässt jedoch den Blick auf eine Künstlerin aus Darmstadt zu; Annegret Soltau, die mit Fotovernähungen ähnliche Aspekte der chirurgischen Intermediation wählt. Ein weiterer Beitrag “Oberfläche und Widerstand. Die Verräumlichung des Denkens bei Freud” von Samo Tomsic befasst sich mit der Untersuchung zur Geometrisierung des Denkens bei Freud.

Emergenz bezeichnet die Möglichkeit der Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. “Modell Hütte” nimmt sich dieser Strukturen an, indem die beiden Herausgeberinnen und mit ihnen eine Reihe an Autoren versuchen, mit der Hütte den Raum zu falten, denn die Hütte erstellt gewissermaßen aus sich heraus eine Tasche oder eine Abteilung in ihm und ermöglicht auf diesem Weg ein relatives Innen in Differenz zu einem Außen.

Eine solche temporäre Faltung des Raums kann vielfältige Funktionen haben und etwa als Unterstand, Obdach, Versteck, Lager oder Zuflucht dienen. In jedem Fall wird der Bau nur selten planvoll konstruiert. Denn die Bauweise der Hütte gründet auf einer kreativen Vorgehensweise, die aber nicht mehr als solche wahrgenommen wird. In der Konsequenz daraus bildet die Hütte keine eigene Kategorie, sondern will lediglich beispielhaft fungieren. Sie liefert somit das Modell für die spontane Emergenz von Strukturen, die in der Folge entweder vergehen und damit ephemer bleiben oder aber eine eigene Geschichte in Natur und Kultur begründen. Dieses weit über die Architektur hinausreichende “Modell Hütte” erschließen die geistes- und naturwissenschaftlichen sowie gestalterischen Beiträge des Bandes über eine Vielfalt von Diskursen, u.a. zu Wohnen in the making, Prekäre Räume, Technik des Ephemeren, Kulturelle Urszene, Erweiterte Physiologie sowie Haut und Sein.

Der Band aus dem schweizerischen diaphanes Verlag enthält Beiträge von: Michel Agier, Emily Brownell, Michael Cuntz, Heike Delitz, Elmgreen 5 Dragset, Michael Friedman, Finn Geipel & Sabine Hansmann, Ulrike Haß, Inge Hinterwaldrier, Tim Ingold, Susanne Jany & Khashayar Razghandi, Stephan Kammer, Joachim Krausse, Karin Krauthausen, Rebekka Ladewig, Stephan Pinkau, Luca Rendina, Kathrin Röggla, Anna L. Roethe, Samo Tomsic, Felicity Scott  und J. Scott Turner.

www.diaphanes.com

Modell Hütte
Von emergenten Strukturen, schützender Haut und gebauter Umwelt
(Hrsg.) Karin Krauthausen & Rebekka Ladewig
diaphanes Verlag, Zürich
1. Auflage, 2022
Gebunden,‎ 544 Seiten mit zahlr. Abb.
Format: ‎ 16,5 x 24,4 x 4,3 cm
ISBN: ‎ 978-3037349830 

 

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