Ein Fenster zur Welt: „Turning Point. Turning World“ Interview


Die vierte Auflage der RAW Photo Triennale Worpswede – Festivalleiter Jürgen Strasser im Interview

In ihrer vierten Ausgabe widmet sich die RAW Photo Triennale Worpswede dem Thema „Turning Point. Turning World“. Die Welt befindet sich an einem Wendepunkt, ist von Veränderungen, Krisen und kritischen Momenten gekennzeichnet. RAW nimmt diesen Prozess radikaler Veränderungen in den Fokus. Wir sprachen mit Festivalleiter Jürgen Strasser über das Thema und die Ausrichtung des so besonderen Festivals im Künstlerdorf Worpswede, das auch in diesem Jahr eine Mischung aus aktuellen dokumentarischen und künstlerischen Foto- und Videoarbeiten bietet.

Ein Interview mit Festivaldirektor Jürgen Strasser

MP: Lieber Herr Strasser, noch bis zum 11. Juni sind in Worpswede künstlerische Arbeiten zu sehen, die unsere Welt im Wandel zeigen. Man vermutet ein solches Festival mit jungen, internationalen, in Deutschland aber weitgehend unbekannten Positionen, eigentlich nicht in dem kleinen Künstlerdorf im Landkreis Osterholz in Niedersachsen. Denn hier, im Teufelsmoor, so könnte man ganz naiv mal glauben, steht die Welt noch still. Wie kam es denn dazu, dass sich das RAW Festival überhaupt gerade hier etablieren konnte?

JS: Der Künstlerort Worpswede ist meines Erachtens der Festivalstandort schlechthin. Es gibt in Deutschland und wahrscheinlich auch in ganz Europa keinen Ort, der gemessen an seiner Größe über ein so dichtes und hochklassiges Netz an Ausstellungsmöglichkeiten verfügt. Festivalbesucherinnen und -besucher sind sofort mittendrin im Geschehen. Es bedarf keiner großen Orientierung. Allein fünf Ausstellungsorte befinden sich in der Bergstraße, jeweils nur eine Minute Fußweg voneinander entfernt. Und das ganze eingebettet in eine Landschaft, die seit 140 Jahren Kunst- und Kulturschaffende aus allen Regionen der Republik anzieht und den Mythos Worpswede nachhaltig am Leben hält. Und ein dritter Faktor ist die breite Unterstützung, die wir von Beginn an im Ort und in der Region bekommen haben.

MP:  Sie sprachen gerade vom „Mythos Worpswede“. Worpswede ist bekannt für seine Künstlerkolonie, die sich hier, nordöstlich von Bremen, Ende des 19. Jahrhunderts gründete. Aus der Stadt kamen Künstlerinnen und Künstler wie Bernhard Hoetger, Otto Modersohn, Paula Modersohn-Becker, Fritz Overbeck oder Heinrich Vogeler in das Dorf – Rainer Maria Rilke war der Gruppe freundschaftlich verbunden. Welche Bedeutung hat der Mythos Worpswede heute?


JS: 
Der Mythos Worpswede lebt tatsächlich immer noch und hat uns vor allem in den Anfangsjahren sehr geholfen, überregionale Aufmerksamkeit zu erzielen – sowohl beim Publikum als auch bei den Medien. Wäre das Festival beispielsweise in Osterholz-Scharmbeck angesiedelt, hätten wir es nicht so schnell als überregionales und mittlerweile auch internationales Festival etablieren können.


MP: 
In den vier Häusern des Worpsweder Museumsverbundes zeigen Sie die Hauptausstellungen der RAW Photo Triennale: Im Haus im Schluh treten unter dem Titel „#EGO“ künstlerische Positionen in den Dialog, die von der Suche nach sich selbst und der eigenen Position in der Gesellschaft erzählen. In der Worpsweder Kunsthalle macht sich die Ausstellung „#FAKE“ auf die Suche nach Wahrhaftigkeit und zeigt die Perfektionierung der Täuschung. Mit „#NEXT“ dreht sich im Barkenhoff alles um aktuelle sozioökologische Fragestellungen und die Herausforderungen der Zukunft. Die Ausstellung „#RISK“ in der Großen Kunstschau Worpswede verhandelt große politische und gesellschaftliche aktuelle Themen wie Revolutionen, bewaffnete Konflikte, Migration und Klimawandel. Wir reagiert das Publikum auf Ihre avancierten Themensetzungen?

JS: Die vier Hauptausstellungen der diesjährigen RAW Photo Triennale sind deutlich komplexer, konzeptioneller und politischer als in den vorangegangen Jahren und natürlich waren wir auf die Reaktionen des Publikums gespannt, vor allem auch auf darauf, wie unser Stammpublikum reagiert. Und ich muss sagen: Ich bin positiv überrascht. Wir scheinen mit unseren Themen und der dazugehörigen Auswahl an künstlerischen Positionen den Nerv der Zeit getroffen zu haben. Anders kann ich mir die breite Zustimmung nicht erklären. Und vielleicht hat man uns diesen künstlerischen Quantensprung schlicht und einfach nicht zugetraut – und die Kritiker schweigen.

MP: Diese vier Ausstellungen wurden erstmals von externen Kuratoren und Kuratorinnen zusammengestellt. Die Ausstellung #RISK wurde von Julia Bunnemann (Brighton/London) kuratiert, #NEXT und #EGO gemeinschaftlich von Daria Bona (Köln) und Cale Garrido (Hamburg) und #FAKE von Wolfgang Zurborn (Köln). Warum dieser Schritt, die Kuratierung abzugeben?

JS: Ein „RAW“ als Bezeichnung für das digitale Negativ bedarf der Entwicklung in der digitalen Dunkelkammer, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen. Genauso verhält es sich bei unserem Festival. Auch wir befinden uns im ständigen Entwicklungsmodus. RAW ist für uns die Verpflichtung, von Ausgabe zu Ausgabe neue Akzente zu setzen, neue Format zu entwickeln und unser Publikum neu zu überraschen. Daher haben wir für die vierte Ausgabe von RAW die künstlerische Verantwortung aus der Hand gegeben und externe Kuratorinnen und Kuratoren damit beauftragt. Wir wollten damit als RAW-Team auch vermeiden, zu sehr in der eigenen Echokammer zu bleiben. Vorgabe unsererseits waren das Festivalthema und die Schlüsselbegriffe zu den Hauptausstellungen. Aus dem  Auswahlprozess haben wir uns allerdings komplett herausgehalten.

MP: Die Aktualität der gezeigten Positionen wird auch in der Sonderschau „RAW Plus“ deutlich: Hier zeigen Sie in der Galerie Altes Rathaus Arbeiten von Studierenden und Absolventen und Absolventinnen der Ostkreuzschule für Fotografie Berlin. Wie reagierten die jungen Künstlerinnen und Künstler auf das Künstlerdorf?

JS: Es ist jedes Mal erfreulich, wie positiv junge Künstlerinnen und Künstler auf Worpswede reagieren. Sie sind immer wieder überrascht über die vielen hochklassigen Ausstellungsräume.  Zudem genießen sie die familiäre und freundschaftliche Atmosphäre des Künstlerdorfs – und die kurzen Wege zwischen den einzelnen Schauplätzen.

MP: Die RAW Photo Triennale Worpswede steht für aktuelle Positionen und Tendenzen in der Fotografie – präsentiert in einen, wie sie es nennen „gallischen Dorf“ mit nicht einmal 10.000 Einwohnern. Es ist das „kleinste große Festival“, sagen Sie. Gibt es ein vergleichbares Festival, an dem Sie sich orientieren?
JS: Als ich 2015 die Idee hatte, in Worpswede ein Fotofestival zu organisieren, hatte ich die Wiesbadener Fototage im Blick. Ein Festival, das klein angefangen hat und von Ausgabe zu Ausgabe gewachsen ist. Das ist auch unser Weg. Organisch zu wachsen, aber weiterhin die familiäre Atmosphäre beizubehalten oder wie es der Publizist und Kurator Hans-Michael Koetzle auf den Punkt gebracht hat: „Worpswede erinnert ein wenig an das frühe Arles. Da werden keine mächtigen Torten gebacken, sondern Petit Fours gereicht.“

MP: Ein schönes Kompliment! Kommen wir zu dem diesjährigen Festivalthema. Es geht, das ist nicht verwunderlich, um Umbrüche, Wendepunkte und Krisenherde der Welt von heute. In welcher Weise werden die Fragen von heute hier verhandelt? Vielleicht stellen Sie uns eins, zwei Arbeiten exemplarisch vor?

JS: Unsere Ausstellungen verhandeln nicht nur die großen Themen der Welt, sondern auch persönliche Wendepunkte. Beispielhaft möchte ich hier die Arbeit „Baruch“ der englischen Fotokünstlerin Laura Pannack nennen, die den Ausstieg eines jungen Mannes aus der streng orthodoxen-jüdischen Glaubensgemeinschaft begleitet. Ihr gelingt es, in wunderbar poetischen Bildern die innere Zerrissenheit dieses jungen Mannes zu zeigen. Die Arbeit wird übrigens erstmals überhaupt ausgestellt.

MP: Auffällig ist auch eine Hinwendung weg vom Tafelbild an der Wand hin zu installativen Foto- und Videoarbeiten. Wie frei verstehen Sie Fotokunst? Und wie lässt sich das, was wir hier sehen, mit dem Namen des Festivals „RAW“ in Verbindung bringen?

JS: Wir haben unser Festival RAW genannt, weil unser Anspruch nicht der ist, perfekt zu sein. Im Gegenteil: Im Gröberen, Rauen, liegt ein enormer Reiz – auch wenn unser Festival in diesem Jahr musealer daherkommt, als je zuvor. Im Fokus von RAW stehen gesellschaftliche und politische Fragen, zu denen wir ein künstlerisches Statement abgeben. Diesem Anspruch wollen wir, mal raw und rough, mal feiner ziseliert, immer gerecht werden.

MP: In einer Pressemitteilung haben Sie versprochen: „RAW wird kontroverser und noch aufregender.“ Konnten Sie das Versprechen einlösen?

JS: Ja, dieses Versprechen haben wir gemeinsam mit dem kuratorischen Team definitiv eingelöst und die Rückmeldungen unseres Publikums bestätigen diesen Eindruck. Die aktuelle Ausgabe präsentiert nationale wie internationale Künstlerinnen und Künstler, deren Arbeiten sich intensiv mit den sozialen, politischen und ökologischen Narrativen und ihrer Rezeption in unserer Welt auseinandersetzen. Und wir sind auch ein Festival der Neuentdeckungen, denn viele der präsentierten Arbeiten sind zum ersten Mal überhaupt in Deutschland zu sehen.

MP: Wenn die Künstlerkolonie Worpswede für einen Aufbruch in die Moderne steht, wofür steht RAW?
JS: Das Thema „Turning Point. Turning World“ korrespondiert mit dem Ausstellungs-, Kunst- und Forschungsprojekt „Zeitenwende“ der Worpsweder Museen. Gegenstand dieses Projektes ist die Rolle Worpswedes als Ort von Utopien und Neuerfindung. Mit ihrem kritischen Blick auf aktuelle Themen und der Fokussierung auf junge und aufregende Fotokunst ergänzt RAW den Ausstellungskanon der Museen um ein bewusst von außen hineingetragenes Element, das die Impulse der Museumslandschaft aufnimmt und weiter entwickelt. So versteht sich RAW auch als ein Akteur, der Außenansichten nach Worpswede einbringt und ein Fenster zur Welt öffnet.

MP: Schon 2020, am Anfang der Corona-Pandemie, erregte RAW Aufsehen. Aus der RAW Photo Triennale wurde damals „RAW-FREI-HAUS“. In Worpswede gelang es sehr früh – lange vor großen Museen und Ausstellungshäusern –, sich den neuen Realitäten zu stellen. In welcher Weise haben Sie die Arbeit mit digitalen, audiovisuellen Medien und Vermittlungsformaten diesmal weitergeführt?

JS: Zunächst bin ich sehr froh darüber, dass es in diesem Jahr keinerlei Einschränkungen gibt und unsere Ausstellungen wie geplant stattfinden können. Die Produktion eines umfangreichen digitalen Zwillings wie bei der letzten Ausgabe von RAW im Frühjahr 2020 war für uns nie eine Option, da wir uns als Publikumsveranstaltung sehen. Ganz verzichtet haben wir auf digitale Vermittlungsformate allerdings nicht und für alle 22 Werkreihen in den vier zentralen Ausstellungen #EGO, #FAKE, #NEXT und #RISK Audioguides entwickelt, die Besucherinnen und Besucher vor Ort abrufen können. Es stehen auch Videos zur Verfügung, in denen das kuratorische Team in die jeweiligen Ausstellung einführt.

MP: Diesmal wurde die Zusammenarbeit mit den Worpsweder Museen noch einmal vertieft. Was können Sie davon berichten?

JS: Tatsächlich nur Positives. Wie schon 2020 finden die Ausstellungen der Photo Triennale in den zentralen Ausstellungsräumen aller vier Häuser des Worpsweder Museumsverbundes statt. In der Großen Kunstschau und im Barkenhoff wurde uns von den Museumsleitungen deutlich mehr Ausstellungsfläche zur Verfügung gestellt. Und da unser Festivalthema mit dem Ausstellungs-, Kunst- und Forschungsprojekt „Zeitenwende“ der Worpsweder Museen korrespondiert, sind wir nicht nur räumlich, sondern auch inhaltlich miteinander verwoben.

MP: Mit welchen Partnern kooperieren Sie bei diesem Festival?

JS: RAW ist als Kooperationsprojekt angelegt. Wichtig war uns von Anfang an der Kontakt zu Hochschulen und fotografischen Institutionen. 2020 zum Beispiel waren die Hochschulen aus Hannover und Bremen sowie die Deutsche Gesellschaft für Photographie zu Gast, in diesem Jahr sind es die Ostkreuzschule für Fotografie Berlin, die Deutsche Fotografische Akademie und erstmals international die fotografische Plattform Photoworks aus Brighton. Und auch die Zusammenarbeit mit dem PhotoBookMuseum Köln und dem Deutschen Jugendfotopreis ist das Ergebnis des Kooperations- und Netzwerkgedankens.

Interview (c) Marc Peschke

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