Jeff Wall Fondation Beyeler: in Riehen bei Basel, vom 28. Januar – 21. April 2024


Zu Beginn des neuen Jahres präsentiert die Fondation Beyeler Werke des kanadischen Künstlers Jeff Wall (*1946) in einer umfangreichen Einzelausstellung. Es handelt sich dabei um Walls erste Werkschau in der Schweiz seit fast zwei Jahrzehnten. Wall, der maßgeblich zur Etablierung der Fotografie als eigenständige Kunstform beigetragen hat, zählt heute zu ihren wichtigsten Vertretern. Mit über 50 Werken aus fünf Jahrzehnten zeigt die Ausstellung das gesamte Spektrum des bahnbrechenden Œuvres des Künstlers, von seinen ikonischen Großbilddiapositiven in Leuchtkästen bis hin zu den großformatigen Schwarz-Weiß Fotografien und Inkjet-Farbdrucken. Zudem richtet die Ausstellung ein besonderes Augenmerk auf Arbeiten aus den letzten zwei Jahrzehnten, darunter auch Fotografien, die erstmals überhaupt öffentlich zu sehen sind. Die Ausstellung ist in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler entstanden.

Jeff Wall, Mask Maker (Maskenmacher), 2015, Inkjet-Print, 167,4 x 134.5 cm, Courtesy Jeff Wall und White Cube © Jeff Wall

In seinen Werken lotet Jeff Wall die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion, Zufall und Konstruktion aus. Seit Mitte der 1970er-Jahre erforscht er dabei Wege, die künstlerischen Möglichkeiten der Fotografie zu erweitern. Wall bezeichnet seine Arbeiten als «Cinematografie», da er im Film ein Vorbild für kreative Freiheit und Erfindungskraft sieht, die in der vorherrschenden, als «dokumentarisch» definierten Fotografie in den Hintergrund getreten ist. Viele seiner Fotografien sind konstruierte Bilder, die eine umfangreiche Planung und Vorbereitung, die Zusammenarbeit mit Darstellern und eine Postproduktion erfordern. Jeff Wall komponiert Bilder, die von der Vorstellung abweichen, dass Fotografie in erster Linie eine getreue Abbildung der Realität ist.

Wall wurde 1946 in Vancouver, Kanada, geboren, wo er auch heute noch lebt und arbeitet. In den 1960er Jahren – in der Blütezeit der Konzeptkunst – begann er sich mit Fotografie zu beschäftigen. Ab Mitte der 1970er-Jahre zeigte er in Leuchtkästen inszenierte Großbilddias. Mit diesem Format, das bis dahin eher mit Werbung als mit Fotokunst in Verbindung gebracht wurde, führte er eine neue Präsentationsform in die Kunst ein. Seit Mitte der 1990er-Jahre hat Wall sein künstlerisches Ausdrucksspektrum mehrfach erweitert, zunächst um großformatige Schwarz-Weiß-Fotografien und in jüngerer Zeit auch um Farbdrucke. Sein Schaffen war in zahlreichen Einzelausstellungen weltweit zu sehen, unter anderem 2005 in der Tate Modern, London, 2007 im Museum of Modern Art, New York, 2014 im Stedelijk Museum, Amsterdam, und 2021 im Glenstone Museum, Potomac.

Jeff Walls Bilder bewegen sich zwischen dokumentarischer Aufzeichnung, filmischer Komposition und freier poetischer Erfindung. Sie konfrontieren die Ausstellungsbesuchenden mit einer Vielzahl von Motiven und Themen, mit Schönem und Hässlichem, Mehrsinnigem und Verstörendem. Wall ist der Ansicht, dass die Fotografie in ihrer Themenwahl und Umsetzung so frei sein sollte wie alle anderen Kunstformen – so poetisch wie die Poesie, so literarisch wie die Literatur, so malerisch wie die Malerei, so theatralisch wie das Theater, dies ohne die spezifischen Eigenheiten des fotografischen Mediums preiszugeben.

Den Auftakt der Ausstellung in der Fondation Beyeler bildet im Foyer das Aufeinandertreffen zweier ikonischer Werke aus dem Jahr 1999. Morning Cleaning, Mies van der Rohe Foundation, Barcelona zeigt die frühmorgendlichen Reinigungsarbeiten, die im berühmten Pavillon vor Eintreffen der Besucher und Besucherinnen durchgeführt werden. Eine Reinigungskraft ist gerade dabei, die großen Fenster an der Gartenseite des Pavillons zu putzen, ein Moment, der normalerweise den Blicken der Besuchenden verborgen bleibt. A Donkey in Blackpool gewährt einen Blick in einen einfachen Stall, in dem ein Esel in einer Phase des Ausruhens zu sehen ist. Im Dialog der beiden Bilder treffen höchst unterschiedliche soziale und kulturelle Welten aufeinander, wobei die Aufmerksamkeit gleichzeitig auf ihre Gemeinsamkeiten gelenkt wird – Mensch und Tier stehen beide in einer tiefen Beziehung zu den Räumen, in denen sie sich aufhalten. Die Ausstellung ist so konzipiert, dass sich eine Abfolge derartiger Gegenüberstellungen entfaltet, die Resonanzen zwischen Themen, Techniken und Genres erzeugen.

Der erste Raum der Ausstellung zeigt eine Reihe von Diapositiven in Leuchtkästen, in denen Landschaften im Vordergrund stehen. Die zwischen 1987 und 2005 entstandenen Stadtansichten eröffnen einen weiten Blick auf urbane und vorstädtische Gegenden in Vancouver. Jeff Wall erachtet die Stadtlandschaften als einen wichtigen Aspekt seiner Arbeit, sie ermöglichen ihm die Erkundung des Wesens der Stadt, ihres Verhältnisses zu den sie umgebenden nicht-städtischen oder vorstädtischen Gebieten und ihres Charakters als Schauplatz des unendlichen Geflechts von Ereignissen, die das gesellschaftliche Leben ausmachen.

Jeff Wall, Boy falls from tree (Junge fällt vom Baum), 2010, Lightjet-Print, 226 x 305,3 cm, Emanuel Hoffmann-Stiftung, Geschenk der Präsidentin 2012, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel

Die darauffolgenden Säle versammeln Szenen, die in den verschiedensten Innen- und Außenräumen, an öffentlichen und privaten Orten, entstanden sind. Die Bilder umfassen Darstellungen von Männer- und Frauengruppen, von armen und wohlhabenden, von jungen und alten Menschen. Darunter sind Bilder, die mit großem Aufwand geschaffen wurden, und andere, die keine sichtbare Herausforderung in der Umsetzung zu erkennen geben. Es finden sich Fotografien in Farbe und in Schwarz-Weiß, große und kleine, real und unwirklich anmutende, die den unterschiedlichsten Stimmungen, Gemütszuständen und Beziehungen Anschaulichkeit verleihen.

Viele der bekanntesten Arbeiten des Künstlers sind zu sehen, darunter auch After ‹Invisible Man› by Ralph Ellison, the Prologue (1999–2000), die Rekonstruktion einer Szene aus Ellisons Roman von 1952, die den jungen Schwarzen Helden des Buches bei der Arbeit an der Erzählung der Geschichte in seinem geheimen Kellerversteck zeigt, das mit genau 1369 Glühbirnen beleuchtet ist. A Sudden Gust of Wind (after Hokusai) aus dem Jahr 1993, das zu Walls großformatigsten Werken zählt, erweist sich als zeitgenössische Adaption eines Drucks aus Katsushika Hokusais Holzschnittserie 36 Ansichten des Berges Fuji (um 1830–1832). Beide Bilder haben ihren Ursprung in Werken anderer Künstler; Wall nimmt sich die Freiheit, seine Themen dort zu finden, wo ihn seine Fantasie hinführt, was von Alltagsszenen über Kunstgeschichte, Literatur und Theater bis hin zum Film reicht. A Sudden Gust of Wind (after Hokusai) ist eine der ersten Arbeiten des Künstlers, in denen er digitale Techniken einsetzte, die es ermöglichen, eine Reihe einzelner Negative zu einem einzigen finalen Bild zusammenzufügen.

Die meisten von Walls neueren Werken sind in der Ausstellung zu sehen, sie sind meist so arrangiert, dass sie in einen Kontrast zu älteren Bildern treten. Fallen rider (2022), das Bild einer Frau, die gerade von ihrem Pferd abgeworfen wurde, hängt gegenüber von War game (2007), auf dem drei Jungen, die offenbar während eines Kampfspiels gefangen genommen wurden, in einem improvisierten Gefängnis flach auf dem Boden liegen, während ein anderes Kind sie bewacht. In Parent child (2019) hat sich ein kleines Mädchen ebenfalls auf dem Boden ausgestreckt, hier nun auf einem Gehweg im sanften Schatten eines Baumes, betrachtet von einem Mann, der wahrscheinlich ihr Vater ist. Wie Filmstills scheinen Walls Bilder einen Augenblick in einem Geschehen festzuhalten, das Davor und das Danach bleiben verborgen. An der angrenzenden Wand hängt Maquette for a monument to the contemplation of the possibility of mending a hole in a sock (2023), das eine in Gedanken versunkene ältere Frau zeigt. Diese hält in der Hand eine Nähnadel und blickt auf ein Loch in der abgenutzten Ferse einer lila Socke. Die Flickerin erscheint unwirklich, wie eine Erscheinung, die die Fähigkeit und den Willen der Menschen hinterfragt, das, was abgenutzt, überbeansprucht oder beschädigt worden ist, wieder instand zu setzen.

Die Ausstellung wird kuratiert von Martin Schwander, Curator at Large, Fondation Beyeler, unter Mitarbeit von Charlotte Sarrazin, Associate Curator.

Der Ausstellungskatalog, der von Uwe Koch in engem Austausch mit dem Künstler gestaltet wurde, erscheint auf Deutsch und Englisch im Hatje Cantz Verlag, Berlin. Auf 240 Seiten finden sich dort neben Abbildungen der Werke ein Gespräch zwischen Jeff Wall und Martin Schwander, ein ausführlicher Text, in dem der Künstler selbst die Auswahl und Hängung der Werke in den elf Sälen erörtert, sowie Beiträge von Martin Schwander und Ralph Ubl. Die Ausstellung wird großzügig unterstützt durch: Beyeler-Stiftung Hansjörg Wyss, Wyss Foundation Cristina und Dr. Thomas W. Bechtler Larry Gagosian, Gagosian Jay Jopling, White Cube Deborah und Philippe Peress Ellen und Michael Ringier sowie weitere Stiftungen und private Gönnerinnen und Gönner, die ungenannt bleiben möchten.

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