Essay von Dino Steinhof Leandro Erlich: „Schwerelos. Schweben auf die denkbar seltsamste Weise"


„Das Raumschiff Erde wurde so außergewöhnlich gut erfunden und
gestaltet, dass die Menschen unseres Wissens seit zwei Millionen Jahren
an dessen Bord sind und ihnen nicht einmal bewusst ist, dass sie sich an
Bord eines Schiffs befinden.“
R. Buckminster Fuller (1895–1983) 1

Als die Erde am 24. Dezember 1968 über der Mondoberfläche zum Vorschein kam, drückte der US-amerikanische Astronaut William „Bill“ Anders (1933–2024) auf den Auslöser seiner Kamera: Earthrise, die Fotografie, die um die Welt gehen und zur Bildikone aufsteigen sollte (Abb. 1, S. ##), entstand. Die Apollo-8-Mission war erst wenige Tage zuvor, am 21. Dezember 1968, gestartet und Bill Anders war von dem Anblick der Erde überwältigt: „Oh mein Gott, schaut euch das Bild dort drüben an! Dort geht gerade die Erde auf“.2 Die NASA-Mission, der erste bemannte Weltraumflug zum Mond, bestand darin, den Erdtrabanten mehrfach zu umkreisen, um Erkundungen für die erste Mondlandung, die nur wenige Monate später am 20. Juli 1969 stattfinden sollte, durchzuführen (Abb. 2, S. ##). 3 Die analoge Farbfotografie, aufgenommen mit einer Hasselblad 500 EL, war eher eine spontane Dokumentation als ein geplanter Teil der Mission. Rückblickend kommentiert Bill Anders: „Wir machten uns auf, den Mond zu erforschen und entdeckten stattdessen die Erde.“ 4 Das eine existenzielle Erweiterung des Bewusstseins und der Wahrnehmung beim erstmaligen Betrachten der Erde aus dem Weltall heraus auslösende Phänomen wurde als Overview-Effekt bezeichnet.5 Seine Wirkung ist jedoch nicht allein auf Astronaut*innen begrenzt, sondern lässt sich durch die Vermittlung der Erlebnisse – zum Beispiel in Form von Erzählungen oder Fotografien – auf andere übertragen. Im vorliegenden Fall hat die Fotografie Earthrise die Sichtweise auf unseren Heimatplaneten, der wie ein „Raumschiff“ in der Dunkelheit des Alls zu schweben scheint, grundlegend verändert. Durch die völlig ungewohnte, bis dato nicht gesehene Perspektive auf die Erde in ihrer verletzlichen Schönheit sah sich der Mensch und seinen Platz im Kosmos mit völlig neuen Augen. Nicht zuletzt hat die Fotografie des „blauen Planeten“, laut Time-Magazine eines der „einflussreichsten Bilder aller Zeiten“,6 unter anderem dazu beigetragen, das ökologische Bewusstsein und daraus hervorgegangene Umweltbewegungen im Zuge der 1970er-Jahre zu befördern.

Noch Jahre danach, so im Jahr 1983, beschrieb der Physiker und ehemalige Astronaut Ulf Merbold, nach dem DDR-Kosmonauten Sigmund Jähn (1937–2019) der zweite Deutsche im All, seine persönlichen Eindrücke des Overview-Effekts:

„Seit ich mit eigenen Augen sehen konnte, wie dünn die schützende Lufthülle der Erde ist undwie sehr wir die Atmosphäre stellenweise durch Industrie- und Verkehrsabgase belasten, bin
ich besorgt, ob wir die Selbstreinigungskraft der Natur nicht überfordern. Dürfen wir unbesorgt Wohlstand, Bequemlichkeit und Komfort genießen, ohne uns um die damit verbundene
Belastung der Umwelt zu kümmern, oder haben wir nicht vielmehr die Pflicht, die Erde denjenigen, die nach uns kommen, in einem guten Zustand zu hinterlassen?“7

Angesichts der menschengemachten Klimakatastrophe hat die Frage von Ulf Merbold auch nach mehr als vierzig Jahren nicht an Dringlichkeit verloren – im Gegenteil.

In seiner Ausstellung Schwerelos, die eigens für das Kunstmuseum Wolfsburg konzipiert wurde, thematisiert der Künstler Leandro Erlich mit den Mitteln des Illusionismus und der Fiktion als Vehikel der Vorstellungskraft nicht nur die technischen Voraussetzungen, die es im Laufe des 20. Jahrhunderts erstmals in der Geschichte der Menschheit ermöglichten, die Umlaufbahn der Erde zu verlassen und zum Mond zu reisen. Ihn treibt auch der anthropogene Einfluss auf das „RaumschiffErde“ und der Platz des Menschen im Kosmos um.

Die Wirklichkeit hinter dem Schein

Leandro Erlich, der 1973 in Buenos Aires, Argentinien, geboren wurde, wuchs in einer Architekt*innenfamilie auf. Zunächst studierte er Philosophie, bevor er sich gänzlich der bildenden Kunst widmete. Seit seinen künstlerischen Anfängen in den 1990er-Jahren wusste Erlich mit seinen akribisch konzipierten Ausstellungen zu überraschen. Etliche seiner Werke – darunter ortsbezogene Skulpturen, Installationen und Videoarbeiten – nutzen gekonnt die Mittel der (optischen) Illusion, wodurch ihre sinnesstimulierende Wirkung zusätzlich intensiviert wird.

Viele seiner Arbeiten sind nicht nur visuell, sondern auch körperlich erleb- und erfahrbar. Nicht selten nehmen die Besucher*innen seiner Ausstellungen einen performativen Part ein, die seine Installationen als spontan handelnde, improvisierende und sich – im wahrsten Sinne des Wortes – in Szene setzende Akteur*innen vervollständigen.

Auf den ersten Blick handelt es sich bei Leandro Erlichs Werken häufig um präzise Imitationen alltäglicher Gegenstände oder räumlicher beziehungsweise architektonischer Situationen. Bei näherer Betrachtung muten sie jedoch stets entrückt und eigentümlich an, wodurch sie kraftvolle und gelegentlich unheimliche Momente der Irritation entfalten: Ein historisches Wohnhaus scheint in der Hitze der Großstadt zu schmelzen; eine täuschend echt wirkende Tür sieht aus, als würde sie aus zerbrochenem Glas bestehen; die Spiegelung eines vermeintlichen Treppenhauses führt in ein unendliches Nirgendwo (Abb. 3 u. 4 S. ##).

Die verblüffenden Illusionen der Arbeiten von Leandro Erlich stellen unsere Erwartungshaltungen, mehr jedoch unsere Sehgewohnheiten infrage, indem sie zum Beispiel Perspektiven verschieben, Größenverhältnisse verändern oder innen und außen vertauschen. Die dadurch entstehenden Sinnestäuschungen erzeugt Leandro Erlich häufig mit Materialien wie Spiegel oder Gläsern, aber auch Wasser, Möbel, Videoanimationen und Sound kamen in seinem bisherigen Schaffen zum Einsatz.

Obwohl seine Werke durch das hohe Maß an Illusionismus surreal oder eskapistisch erscheinen mögen, verfolgt Erlich mit seinen Arbeiten nicht das Ziel, der Wirklichkeit zu entkommen. Ohnehin „entrinnen wir der Wirklichkeit nicht dadurch“, so der Philosoph Markus Gabriel, „dass wir uns täuschen oder getäuscht werden“. Jeder Fluchtversuch vor der Wirklichkeit ist zum Scheitern verurteilt: „Kein Gedanke und keine Tätigkeit bringen sie zum Verschwinden.“ 8

Mit seiner Kunst strebt Erlich danach, der menschlichen Wahrnehmung und der Wirklichkeit – wohlgemerkt mit den Mitteln der Fiktion – Ausdruck, Sichtbarkeit und ein tieferes Verständnis zu verleihen:

„In all meinen Werken […] zeigt sich die Wirklichkeit auf unterschiedliche Weise. Was wir sehen, ist immer eine Frage der Wahrnehmung, der stärksten Facette der Realität. Es gibt einen impliziten Aspekt sowohl des Verständnisses als auch der Konstruktion dessen, was wir als ‚real‘ bezeichnen. Jede Arbeit ist eine Reflexion über die Architektur dieses Realismus.“9

Für die Ausstellung Schwerelos spielt Leandro Erlich mit den Vorstellungen von Perspektive und Schwerkraft, indem er eine Welt erschafft, in der gewohnte Blickwinkel auf den Kopf gestellt und neue Horizonte der Wahrnehmung ermöglicht werden. Durch seine illusionistischen Werke scheinen die physikalischen Gesetzmäßigkeiten auf der Erde aufgehoben zu sein, wodurch gleichzeitig auf sie aufmerksam gemacht wird. Leandro Erlich nimmt die Betrachter*innen mit auf eine fiktive Reise in einen wundersamen Kosmos, in dem die Gewissheit der irdischen Begriffe von oben und unten brüchig wird und der Mensch seinen Platz im Universum neu reflektieren muss.

Wolken in Vitrinen

Dem Prinzip der Umkehrung folgend, verwandelt Leandro Erlich den White Cube des Kunstmuseum Wolfsburg in dessen Gegenteil: eine Blackbox, deren Dunkelheit zum Träumen und Imaginieren anregt. Beim Betreten der Ausstellung gehen die Besucher*innen als erstes an einer langen, ebenfalls schwarz gestrichenen Wand entlang, die nicht ohne Zufall an eine Abwandlung des geheimnisvollen Monolithen aus Stanley Kubricks (1928–1999) Science-Fiction-Meisterwerk 2001: Odyssee im Weltraum (englischer Originaltitel: 2001: A Space Odyssey) (evtl. Abb. 2001: A Space Odyssey S. ##) aus dem Jahr 1968 erinnert.

Bereits im Eingangsbereich der Schau wird von Weitem eine scheinbar schwebende Wolke in einer Vitrine erkennbar. Hierbei handelt es sich um ein Objekt aus Leandro Erlichs mehrteiliger Arbeit The Cloud (2018–2022; Abb. S. ##) – seine wiederkehrende künstlerische Auseinandersetzung mit Wolken, bei denen er von „Skulpturen aus Wasserdampf und Wind“ spricht.10

Die insgesamt vier Vitrinenobjekte bestehen aus je neun bedruckten Glasscheiben, die – in beleuchteten Holzgehäusen hintereinander geschichtet – geradezu malerische Bilder von unterschiedlich geformten, vermeintlich schwebenden Wolken ergeben. Sie laden zum freien Assoziieren ein, so wie es üblicherweise geschieht, sobald man beim Blick in den Himmel und die
Wolken betrachtend die Gedanken schweifen lässt. Zu träumen, zu fantasieren, zu erfinden und zu erzählen stellt für Leandro Erlich eine tief verwurzelte menschliche Fähigkeit des Geistes dar.11 Denn bei näherer Betrachtung lassen Erlichs Wolkenbilder einen Fisch, eine Ente, den Umriss von Südamerika sowie einen Pfeil erkennen.

Auf spielerische Weise verhandelt The Cloud das Verhältnis zwischen Schein und Sein oder besser: die Wirklichkeit hinter dem Schein, zwischen Innen- und Außenraum, zwischen oben und unten. Dabei scheint Leandro Erlich das Unmögliche ermöglicht zu haben, indem er ephemere, sich in ihrer Gestalt unentwegt transformierende Wolken vom Himmel holt, sie „einfängt“, wie Erlich es selbst formuliert, um sie in musealen Vitrinen dauerhaft zu „konservieren“ und auszustellen.

Scheinbar schwerelos

Das Weltall hat die Menschheit seit jeher fasziniert und dient als Gegenstand der Träume und Zukunftsvisionen, die das Verlassen der Erde und die Erkundung des Sonnensystems mit Raumschiffen und -sonden umfassen. Die Fiktion der (bemannten) Raumfahrt wurde im 20. Jahrhundert durch die mathematischen Naturwissenschaften, allen voran durch die Astrophysik und die Kosmologie, Wirklichkeit. Es war die allgemeine Relativitätstheorie von Albert Einstein (1879–1955) und seine 1917 erschienene Abhandlung „Kosmologische Betrachtungen zur allgemeinen Relativitätstheorie“, die die moderne Kosmologie, die Wissenschaft des Ursprungs und der Entwicklung des Universums, einleitete. 12

Für den Astrophysiker und Kosmologen Hans-Joachim Blome gehört die Entwicklung der Raumfahrt zu den einflussreichsten Technologien des letzten Jahrhunderts, da sie nicht nur die Landung auf dem Mond ermöglichte, sondern auch unser Verständnis des Kosmos und der eigenen Existenz im Universum durch den Einsatz von Satelliten oder Raumsonden erheblich erweiterte. Doch der interstellaren (bemannten) Raumfahrt sind Grenzen gesetzt:

„Durch die Erforschung des Kosmos hoffen wir, Ursprung, Aufbau und Entwicklung des Kosmos besser zu verstehen. Zugleich wollen wir Informationen über Herkunft, Bedeutung und Zukunft unserer Existenz erhalten. Eine wichtige Facette dieser Hoffnung ist die Frage, ob wir allein im Kosmos sind. Am liebsten würden wir nachsehen, indem wir zu anderen Sternen fliegen. Aber die Größe des Kosmos, die Lebensfeindlichkeit der extraterrestrischen Umwelt und die kurze individuelle Lebensspanne binden den Menschen an die Erde.“ 13

Soweit von interstellarer (bemannter) Raumfahrt gesprochen wird, stößt diese nicht nur in der Astrophysik auf Kritik. Der Anthropologe Tim Ingold weist etwa darauf hin, dass das Bild der Erde als Globus kolonial konnotiert ist, da es „die Vorstellung einer vorgeformten Oberfläche [vermittelt], die darauf wartet, besetzt zu werden, zunächst von allen möglichen Lebewesen und später von der menschlichen (zumeist westlichen) Zivilisation kolonisiert zu werden“. 14 Angesichts multipler Probleme, Krisen und Katastrophen auf der Erde, wie zum Beispiel der menschengemachte Klimawandel und der immer raschere Verbrauch der natürlichen Ressourcen unseres Planeten, gekennzeichnet durch den jährlichen Earth Overshoot Day,15 spiegeln eskapistische Szenarien mithilfe der Raumfahrt die Suche nach neuen, zu besiedelnden und zu kolonisierenden Welten im Universum wider, wodurch die Frage nach imperialen, kolonialen und extraktivistischen Motiven im Zusammenhang mit der interstellaren Raumfahrt aufgeworfen wird. 16

Leandro Erlich ist sich über die so vielschichtigen wie komplexen, aber auch ambivalenten Implikationen hinsichtlich der Raumfahrt, die seiner Ansicht zufolge als ein Zeugnis unserer Zeit betrachtet werden kann, mehr als bewusst und stellt diese auf subtile Weise in seiner Ausstellung Schwerelos zur Disposition. Vielmehr als die Reise zu anderen Welten im Universum interessiert ihn jedoch die menschliche Verbindung zum Planeten Erde. 17

Die über dreizehn Meter hohe Skulptur Spaceship (Abb. S. ##), die wirklichkeitsnahe Nachbildung eines Raumschiffs, befindet sich angedockt an die Empore des Kunstmuseums. Im unteren Bereich der Skulptur kann das Innere des Raumschiffs durch ein Fenster eingesehen und betrachtet werden. Weiter oben auf der Empore können die Besucher*innen das Spaceship betreten und sich auf eine runde Scheibe aus durchsichtigem Verbundglas begeben. An verschiedenen Stellen im Raumschiff befinden sich insgesamt drei Spiegel, die jeweils im 45-Grad-Winkel installiert sind. Somit begegnen die Betrachter*innen im Inneren des Raumschiffs den spiegelverkehrten, scheinbar schwerelosen Abbildern ihrer selbst sowie den Spiegelbildern der anderen Personen, die sich ebenfalls im Spaceship befinden. Durch die optische Spiegelillusion entsteht der Eindruck, dass die Betrachtenden die Erdanziehungskraft überwinden und in der Luft schweben, als seien sie, wenn auch nur für kurze Zeit, Astronaut*innen im Weltall.

Bei Leandro Erlichs Skulptur Spaceship ist nichts so, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Die Spitze des Raumschiffs weist nicht etwa in einen nächtlichen Sternenhimmel, sondern auf ein 36 mal 36 Meter großes Bildobjekt mit dem Titel Soprattutto [Vor allem] (Abb. S. ##), das horizontal in etwa fünfzehn Meter Höhe unter der Museumsdecke angebracht ist.

Als digital erstellte, fiktive Aufnahme eines aus dem Orbit aufgezeichneten Satellitenbildes gibt Soprattutto vor, die komplexe landwirtschaftliche Geometrie, die über Jahrzehnte vielerorts industriell geschaffen wurde, darzustellen. Das „Landschaftsporträt“ schwebt mit seinen Linien, Strukturen, Formen, Flächen und Texturen in farblich abgestuften Grün- und Brauntönen wie ein Sinnbild des menschlichen respektive technischen Einflusses, das sich in der Topografie der Erdoberfläche abzeichnet, über den Köpfen der Betrachter*innen. Durch diese Umkehrung der Sichtweise und die Gegenüberstellung der beiden Arbeiten Spaceship und Soprattutto werden die gewohnten Perspektiven ad absurdum geführt, sodass nicht nur die Wahrnehmung der industriell geschaffenen Landschaften, sondern auch die der bemannten Raumfahrt in ein anderes Licht gerückt und neu kontextualisiert wird: Die bemannte interstellare Raumfahrt kann als Irrweg betrachtet werden. Letztlich landet der Mensch dort mit ihr, wo er hergekommen ist – auf der Erde.

Verflechtungen zwischen Natur und Kultur

Unter dem riesigen Landschaftsbild Soprattutto schwebt ein entwurzeltes Haus in luftiger Höhe. Sogar das Mobiliar im Inneren des Hauses widersetzt sich den physikalischen Gesetzmäßigkeiten auf der Erde, indem es der Gravitation zu trotzen scheint. Ursprünglich für die Ausstellung Die Stadt ist der Star anlässlich des dreihundertjährigen Jubiläums der Stadt Karlsruhe im Jahr 2015 konzipiert und im Rahmen der Globale des ZKM | Zentrum für Kunst und Medien realisiert, zeigt das Kunstmuseum Wolfsburg die erneut geschaffene Großskulptur Pulled by the Roots (Abb. S. ##), die detailgetreue Imitation eines klassizistischen Karlsruher Bürgerhauses aus dem 18. Jahrhundert.

Als Allegorie der Heimat beziehungsweise der Heimatlosigkeit erinnert Pulled by the Roots zum einen an die bedrückenden Bilder der Migrations- und Fluchtbewegungen der letzten Dekade und an die Millionen von Menschen, die wegen Kriegen, politischer Konflikte, unzumutbarer Lebensumstände, oder der sich zuspitzenden Klimakatastrophe vertrieben und entwurzelt werden.

Zum anderen verdeutlicht das vermeintlich schwebende Haus, dass die vom Menschen erbaute Architektur ein integraler Bestandteil der gestalteten Umwelt ist und weitreichende Konsequenzen für die Natur hat. Das mächtige Wurzelwerk, das bezeichnenderweise aus dem Kunststoff Polystyrol und Baumzweigen hergestellt wurde und unter dem Fundament des Hauses auf so absurde wie beeindruckende Weise sichtbar wird, weist auf die belebte wie unbelebte Natur unter den nahezu undurchdringlichen Schichten der im Bauwesen verwendeten Materialien wie Metall oder Beton hin. Die Produktion und Verarbeitung dieser Baumaterialien tragen jedoch maßgeblich zur Erhöhung der klimaschädlichen Treibhausgasemissionen, insbesondere von Kohlendioxid (CO2), bei. Auch die folgenden Arbeiten in der Ausstellung widmen sich dem komplexen Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Die Besucher*innen begegnen den Objekten aus der Serie Hybrid Nature (2021–2023, Abb. S. ##), darunter ein winziges Haus, das in einem Kohlkopf Unterschlupf findet, ein Schmetterling mit menschlichen Ohren statt Flügeln sowie eine Schnecke, deren Fühler durch zwei Finger ersetzt wurden und deren Schneckengehäuse die äußere Erscheinung eines Gehirns angenommen hat. Ergänzt werden diese surreal anmutenden Darstellungen durch weitere Chimären, die eine Mischung aus menschlichen, tierischen, pflanzlichen, aber auch architektonischen Merkmalen aufweisen.

Die kleinformatigen Objekte sind größtenteils aus klassischen bildhauerischen Materialien wie Bronze, Keramik oder Marmor gefertigt. Wie die Bildobjekte aus der Serie The Cloud sind sie in musealen Vitrinen ausgestellt, wodurch ihre scheinbar so einzigartige wie humorvolle Wirkung akzentuiert wird. Die Skulpturen regen zu tiefgreifenden Fragen an: Ist es denkbar, dass Menschen zukünftig in Harmonie mit der Natur leben werden? Wie könnten sich die menschliche Spezies und ihre Kulturen in Zukunft entwickeln? Und können die Grenzen zwischen Mensch, Tier, Pflanze und geschaffener Umwelt verändert oder sogar vollständig aufgehoben werden? Solche und ähnliche Überlegungen finden ihren Platz im geisteswissenschaftlichen Terrain der posthumanen kritischen Theorie, die, wie die Philosophin Rosi Braidotti erklärt, „sich gegen die Hierarchie der Arten stellt und ökologische Gerechtigkeit fordert.“18

Die Serie Hybrid Nature eröffnet einen neuen Möglichkeitshorizont, indem die Betrachtenden über das Verhältnis zwischen Mensch, Natur und Umwelt nachdenken und dadurch spekulative Perspektiven auf eine gemeinsame Zukunft entstehen können.

Im Inneren des Mondes

Maßgeblich inspiriert von Stanley Kubricks Film 2001: Odyssee im Weltraum, dessen Drehbuch in Zusammenarbeit mit dem britischen Science-Fiction-Autor und Physiker Arthur C. Clark (1917–2008) entstand, schrieb die Pop-Ikone David Bowie (1947–2016), zeitlebens ein bekennender Science Fiction-Aficionado, den Song Space Oddity (Abb. 5, S. ##), ein Wortspiel mit dem englischen Originaltitel von Kubricks Opus magnum, das nur schwerlich und sinngemäß mit „Merkwürdigkeit im Weltraum“ übersetzt werden kann. Der Song handelt von einem im Weltall schwebenden Astronauten namens Major Tom, der den Kontakt zu seiner auf der Erde stationierten Bodenkontrolle verliert. Scheinbar verloren in der Finsternis des Alls erlebt Major Tom plötzlich den Overview-Effekt. In der Schwerelosigkeit erblickt der Astronaut den „blauen Planeten“ und dessen Fragilität, die mit den Zeilenn„Ich schwebe hier um meine Blechdose / Hoch über dem Mond / Der Planet Erde ist traurig / Und ich kann nichts dagegen tun“ zum Ausdruck gebracht werden. 19 Genau wie im Fall der Apollo-8-Mission, die im Dezember 1968 die Fotografie Earthrise hervorbrachte, führt Major Toms Odyssee im Weltall zu einem tiefgreifenden Perspektivwechsel auf das „Raumschiff Erde“, das im Weltraum in all seiner verletzlichen Schönheit betrachtet werden kann. David Bowies Song Space Oddity, auf den sich auch der Titel dieses Essays bezieht, wurde am 11. Juli 1969, nur wenige Tage vor der historischen Mondlandung der Apollo-11-Mission, veröffentlicht.

In Leandro Erlichs Ausstellung scheint jedoch der Mond, der einzige natürliche Satellit und circa 4,5 Milliarden Jahre alte Weggefährte unseres Planeten auf seiner Reise durch das Sonnensystem,20 von seiner Umlaufbahn abgekommen und auf der Erdoberfläche gelandet zu sein – genauer gesagt, mitten im Kunstmuseum Wolfsburg. Die begehbare Skulptur Moon (2024, Abb. S. ##) ragt in Form einer über siebzehn Meter im Durchmesser großen und etwa zwölf Meter hohen Halbkuppel vermeintlich aus dem Boden des Museums hervor.

Die Betrachter*innen können sich über eine Rampe ins Innere der Skulptur begeben. Dort befinde sich eine weitere Kuppel, in die sie hineintreten können und auf deren gesamte Innenseite eine Projektion des Weltraums, der Sternenkonstellationen und von den nachts hell erleuchteten Städten auf der Erde zu sehen ist. Begleitet von sphärischen Klängen verdichtet sich die multimediale Installation zu einem immersiven 360-Grad-Panorama.

Allerdings geht Leandro Erlich mit seiner Konzeption von Moon noch einen entscheidenden Schritt weiter, denn die Besucher*innen können auch die Mondoberfläche über eine Treppe, die sich ebenfalls im Inneren der Mondskulptur befindet, erklimmen und aus erhöhter Position die gesamte Ausstellungshalle überblicken. Aus dieser „lunaren“ Perspektive lässt sich die heterogene Komposition der einzelnen Arbeiten in Leandro Erlichs Schau betrachten: Die scheinbar schwebenden Wolken, das an der Empore angedockte Raumschiff, das invertierte Landschaftsbild über den Köpfen der Betrachtenden, die hybriden Wesen aus einer spekulativen Zukunft, das entwurzelte Haus in luftiger Höhe sowie den geerdeten Mond.

Mit den Mitteln der Fiktion und Illusion vermag Leandro Erlichs Ausstellung Schwerelos Perspektiven zu verschieben und Sehgewohnheiten zu hinterfragen. Sie erweitern den Horizont der Wahrnehmung und öffnen selbst im Inneren des Mondes wundersame Fenster der Imagination. Diese weit geöffneten Fenster ermöglichen es uns, nicht nur auf die denkbar seltsamste Weise zu den Sternen zu schweben, sondern auch die Spuren unserer eigenen Existenz auf dem „Raumschiff Erde“, das alles Notwendige für das menschliche wie nichtmenschliche Leben bereithält, staunend zu erblicken.

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1 R. Buckminster Fuller, Operating Manual For Spaceship Earth, Carbondale 1969, S. 15: „Spaceship Earth was so extraordinarily well invented and designed that to our knowledge humans have been on board it for two million years not even knowing that they were on board a ship“.
2 Im Original: „Oh my God, look at that picture over there! There’s the Earth coming up“; ein Transkript ist online verfügbar:  https://svs.gsfc.nasa.gov/vis/a000000/a004100/a004129/G2013-102_Earthrise_MASTER_youtube_hqTranscripts.html [16.08.2024].
3 Der sowjetische Satellit Sputnik (1957) im Erdorbit sowie der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin, der 1961 der erste Mensch im Weltall war, trieben die USA hinsichtlich ihrer Mondfahrt und der Vorherrschaft im Weltraum zur Eile: Die US-amerikanischen Astronauten Neil Armstrong (1930–2012) und Edwin „Buzz“ Aldrin (*1930) betraten als erste Menschen nur wenige Jahre später am 20. Juli 1969 den Mond, wodurch die USA letztlich das Wettrennen für sich entschieden.
4 William Anders, „50 Years After ‘Earthrise,’ a Christmas Eve Message from Its Photographer“, in: Space.com, 24. Dezember 2018: „We set out to explore the moon and instead discovered the Earth“, online: https://www.space.com/42848-earthrise-photo[1]apollo-8-legacy-bill-anders.html [12.08.2024].
5 Vgl. Frank White, Der Overview Effekt. Wie die Erfahrung des Weltraums das menschliche Wahrnehmen, Denken und Handeln verändert, Bern u. a. 1993, S. 23.
6 Jeffrey Kluger, „Apollo 8’s ‘Earthrise’ Photo Changed Our Understanding of Our Place in the Universe. Here’s the Story Behind the Picture“, in: Time, 24. Dezember 2018, online: https://time.com/5479821/earthrise-picture-history-apollo-8/ [16.08.2024].
7 Aus dem Vorwort von Ulf Merbold, in: White 1993 (wie Anm. 5), S. 9.
8 Markus Gabriel, Fiktionen, Berlin 2020, S. 17.
9 „Reimagining Perception. An Interview with Leandro Erlich“, in: ArtDependance Magazine, 8. Dezember 2017, online: https://www.artdependence.com/articles/reimagining-perception-an-interview-with-leandro-erlich/ [24.07.2024], eigene Übersetzung des Autors.
10 Leandro Erlich über seine Arbeit The Cloud (2012), in: Leandro Erlich. Liminal, hg. von Dan Cameron, Ausst.-Kat. Pérez Art Museum Miami, Barcelona 2022, S. 78, eigene Übersetzung des Autors.
11 Vgl. ebd.
12 Zu Albert Einsteins Veröffentlichung „Kosmologische Betrachtungen zur allgemeinen Relativitätstheorie“ siehe Rüdiger Vaas, „100 Jahre moderne Kosmologie“, in: Bild der Wissenschaft, 14. Februar 2017, online: https://www.wissenschaft.de/astronomie[1]physik/100-jahre-moderne-kosmologie/ [15.09.2024].
13 Hans-Joachim Blome, „Die kulturelle Bedeutung der Raumfahrt“, in: Spektrum, 24. Mai 2017, online: https://www.spektrum.de/news/geschichte-der-raumfahrt/1502621 [24.08.2024].
14 Tim Ingold, The Perception of the Environment. Essays on livelihood, dwelling and skill, London und New York 2000, S. 214, eigene Übersetzung des Autors.
15 Im Jahr 2023 fiel der Earth Overshoot Day auf den 2. August. 2024 markiert der 1. August den Tag, an dem die Menschheit alle natürlichen Ressourcen aufgebraucht hat, die die Erde innerhalb eines Jahres zur Verfügung stellen kann. Zum Vergleich: 1987 fiel der Earth Overshoot Day auf den 19. Dezember.
16 Vgl. Blome 2017 (wie Anm. 13).
17 Siehe das Interview „Fiktionen im Raum. Leandro Erlich im Gespräch mit Andreas Beitin und Dino Steinhof“ in der vorliegenden Publikation, S. ##.
18 Rosi Braidotti, „Jenseits des Menschen: Posthumanismus“, online: APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte, 9. September 2016, online: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/233470/jenseits-des-menschen-posthumanismus/#footnote-reference-4 [19.08. 2024].
19 In David Bowies Song Space Oddity bezieht sich die Zeile „Planet Earth is blue“ nicht nur auf die scheinbar blaue Farbe der Ozeane, sondern auch auf die in der englischen Umgangssprache verwendete Metapher „to feel blue“, die ein Gefühl der Niedergeschlagenheit zum Ausdruck bringt: „Here am I floating ’round my tin can / Far above the moon / Planet Earth is blue / And there’s nothing I can do“.
20 Vgl. J. Greer, B. Zhang, D. Isheim, D.N. Seidman, A. Bouvier, P.R. Heck, „4.46 Ga zircons anchor chronology of lunar magma ocean“, in: Geochemical Perspectives Letter, 23. Oktober 2023, online: https://www.geochemicalperspectivesletters.org/article2334/ [01.09.2024]

Siehe auch: Leandro Erlich. SchwerelosKunstmuseum Wolfsburg: vom 12. Oktober 2024 bis 13. Juli 2025