Die Welt steht im Kunstmuseum Wolfsburg auf dem Kopf! Der Mond ist auf der Erde gelandet, Wolken verdichten sich in Vitrinen zu fantasievollen Formen, ein Haus hängt in luftiger Höhe und die Besucher*innen schweben scheinbar in der Schwerelosigkeit eines Raumschiffs – die Ausstellung des argentinischen Künstlers Leandro Erlich bietet für jeden zahlreiche „Wow-Effekte“! Die spektakulären Installationen, die vom Künstler zum großen Teil eigens für das Kunstmuseum Wolfsburg entwickelt wurden, verführen mit ihren überzeugenden Illusionen einerseits zum Staunen, andererseits laden sie zu einer anregenden Reise ein, sich mit den spannungsvollen Beziehungen zwischen Technologie, Raumfahrt, Ökologie oder auch Migration zu befassen.
Seit vielen Jahren gelingt es Leandro Erlich mit seiner Kunst, die Besucher*innen auf ganz unterschiedlichen Ebenen zu begeistern. Viele seiner beeindruckenden Werke erscheinen auf den ersten Blick überraschend, irritierend und humorvoll. Aber bei einer genaueren Betrachtung zeigen sich darüber hinaus zahlreiche tiefgründige Bezüge zu heutigen sozio-kulturellen und mithin politischen Realitäten und Herausforderungen, wie etwa der ganze Komplex rund um Fake News, dem (populistischen) Verdrehen von Wahrheit und Lüge, den weltweiten Fluchtbewegungen oder nicht zuletzt auch die immer bedeutender werdende Macht von Bildern und deren Manipulationsmöglichkeiten vor dem Hintergrund der voranschreitenden Digitalisierung und der Entwicklung Künstlicher Intelligenz.
Schwerelose Reise durch das All Leandro Erlich verwandelt das Kunstmuseum Wolfsburg in eine Blackbox, die gewohnte Perspektiven umkehrt und zum Träumen und Imaginieren einlädt. Die spektakuläre Großskulptur Moon (2024) erhebt sich als Halbkuppel mit einem Durchmesser von fast zwanzig Metern und einer Höhe von rund zwölf Metern über dem Museumsboden. Die Besucher*innen können das Innere der Skulptur begehen und erleben dort in einer weiteren Kuppel eine Projektion verschiedener Sternenkonstellationen sowie von nachts hell erleuchteten Städten mitsamt ihren Straßennetzen. Begleitet von sphärischen Klängen verdichtet sich die multimediale Installation zu einem immersiven 360°-Panorama. Darüber hinaus können die Besucher*innen über ein Treppenhaus auf die Mondoberfläche steigen und von dieser erhöhten Position aus den gesamten Ausstellungsraum überblicken.
„Der Wendepunkt, den ich an der Illusion interessant finde, ist die Erzeugung von Zweifeln; auf diese Weise kann die Illusion kritisches Denken fördern.“ Leandro Erlich
Neben der Skulptur Moon steht ein Raumschiff startklar in der Ausstellungshalle. Die Besucher*innen können die circa 13 Meter hohe Skulptur Spaceship (2024) betreten und über mehrere Spiegel der Illusion erliegen, wie Astronaut*innen in der Schwerelosigkeit des Alls zu schweben. Doch auch hier ist nichts so, wie es auf den ersten Blick scheint. Statt in den nächtlichen Sternenhimmel zeigt die Spitze des Raumschiffs auf ein 36 mal 36 Meter großes, digital generiertes fiktives Landschaftsbild (Soprattutto, 2024), wie man es aus der Kartografie oder von Satellitenaufnahmen kennt. Hoch über den Köpfen der Besucher*innen ist das Bild unterhalb der gesamten Museumsdecke aufgespannt, vergleichbar einer auf dem Kopf stehenden Welt. Mit seinen Feldern, Straßen und Strukturen verdeutlicht es, wie die Topografie der Erdoberfläche im Anthropozän durch den Menschen geformt worden ist.
Miteinander von Mensch und Natur
Unter Soprattutto schwebt in luftiger Höhe eine weitere Großskulptur: Pulled by the Roots (2015/2024). Als Allegorie für Heimat und Heimatlosigkeit erinnert das entwurzelte Haus an aktuelle Flucht- und Migrationsbewegungen und die Millionen Menschen, die aufgrund von Kriegen, politischen Konflikten, unwürdigen Lebensbedingungen oder der sich zuspitzenden Klimakatastrophe ihr Zuhause verloren haben. Zugleich verdeutlicht das schwebende Haus mit seinem imposanten Wurzelwerk, dass die von Menschen gebaute Architektur ein integraler Bestandteil der gestalteten Umwelt ist und ihrerseits weitreichende Folgen für die Natur hat – vom Verbrauch natürlicher Ressourcen bis hin zum Ausstoß klimaschädlicher Stoffe bei der Verarbeitung.
Vom Verhältnis von Himmel und Erde, von oben und unten, von innen und außen handelt auch die mehrteilige Arbeit The Cloud (2018–2022). In vier Vitrinen fängt der Künstler vermeintlich flüchtige Wolken ein und „konserviert“ diese für die museale Präsentation. Die einzelnen Vitrinenobjekte bestehen jeweils aus mehreren bedruckten Glasscheiben, die hintereinander geschichtet zum freien Assoziieren von Formen einladen – wie beim Blick auf das Wolkenspiel am Himmel. Erst beim genauen Hinsehen werden in Erlichs Wolkenbildern Tiere oder die Umrisse Südamerikas sichtbar.
„Mich fasziniert die menschliche Fähigkeit, Wirklichkeit zu konstruieren.“ Leandro Erlich
Das komplexe Verhältnis von Mensch und Natur verhandeln auch die Objekte aus der Serie Hybrid Nature (2021–2023). Die kleinformatigen Skulpturen aus Bronze, Keramik, Marmor und Glas zeigen Mischwesen, die menschliche, tierische und pflanzliche Merkmale vereinen – ein winziges Haus, das in einem Kohlkopf Unterschlupf gefunden hat, ein Schmetterling mit menschlichen Ohren statt Flügeln oder eine Schnecke, deren Gehäuse die äußere Form eines Gehirns angenommen hat. Die surreal anmutenden Figuren schärfen den Blick für die evolutionären Prozesse der Erdgeschichte und werfen Fragen nach zukünftigen Entwicklungen auf.
Den Betrachter*innen bietet Leandro Erlich in seiner Kunst mehrere Rollen an: die des Zuschauers, die des Akteurs innerhalb des Werkes und die des Interpreten. So gelingt es ihm, das Publikum mit seiner illusionistischen Kunst auf ganz unterschiedlichen Ebenen zu begeistern. Seine eindrucksvollen Installationen – auf den ersten Blick oft irritierend, surreal und spielerisch – offenbaren bei genauerem Hinsehen zahlreiche Bezüge zu aktuellen gesellschaftlichen Phänomenen und Herausforderungen. Angesichts von Fake News und Deepfakes schärft Erlichs Kunst das Bewusstsein für die Manipulationsmöglichkeiten durch künstlich generierte Bilder und die Unterscheidung von Fakt und Fiktion.
„In all meinen Werken zeigt sich die Wirklichkeit auf unterschiedliche Weise. Was wir sehen, ist immer eine Frage der Wahrnehmung, der stärksten Facette der Realität. Es gibt einen impliziten Aspekt sowohl des Verständnisses als auch der Konstruktion dessen, was wir ‚real‘ nennen. Jede Arbeit ist eine Reflexion über die Architektur dieses Realismus.“ Leandro Erlich
Begleitprogramm
Die Ausstellung wird von einem abwechslungsreichen Rahmenprogramm begleitet: Vom Künstlergespräch mit Leandro Erlich bis zum Talk mit der Astronautin Insa Thiele-Eich am 26. März 2025 sind während der Laufzeit vielfältige Veranstaltungen geplant. Auch die vor allem beim jungen Publikum beliebten Museumsformate Art & Cocktail, Eat & Art und spezielle Themenführungen wie Facts & Lies werden fortgesetzt.
Publikation
Zur Ausstellung erscheint ein zweisprachiges Magazin (dt./engl.), das neben Installationsansichten u. a. ein ausführliches Interview mit Leandro Erlich sowie Texte von Andreas Beitin und Dino Steinhof enthält. Erhältlich für 12 Euro im Museumsshop oder unter kunstmuseum.de/shop.
Über den Künstler
Leandro Erlich, der 1973 in Buenos Aires, Argentinien, geboren wurde und dort aufwuchs, lebt und arbeitet in Montevideo, Uruguay. Er hat bisher in zahlreichen bedeutenden Museen, vor allem in außereuropäischen Metropolen, ausgestellt (2022: Pérez Art Museum, Miami; 2019: MALBA, Buenos Aires; 2018: HOW Art Museum, Shanghai; 2017: Mori Art Museum, Tokyo; 2013: Barbican, London; 2009: Museo Nacional Reina Sofia, Madrid; 2008: PS1 MoMA, New York). 2023 wurde er in Europa mit einer großen Retrospektive im Palazzo Reale in Mailand geehrt
Siehe auch: Essay von Dino Steinhof