Die Evolution der Massenklagen: Wie Anwälte und Technologie den Rechtsmarkt transformieren Rechtsprechung


In der Welt des Rechts hat sich eine bemerkenswerte Entwicklung vollzogen: Massenklagen werden zunehmend industriell bearbeitet, was eine effizientere und standardisierte Abwicklung auch kleinerer Streitwerte ermöglicht. Diese Transformation wird durch die fortschreitende Spezialisierung von Anwaltskanzleien und die Unterstützung durch IT-Anbieter vorangetrieben, die die notwendige Technologie zur Verfügung stellen.

Eine Klageindustrie ist ein „arbeitsteiliges, systematisch organisiertes Heulen und Zähneklappern.“

(Karin Martussek)

Die industrielle Bearbeitung von Massenklagen ist ein Phänomen, das sich in den letzten Jahren entwickelt hat und nun eine starke Beschleunigung erfährt. Anwälte, die sich auf Massenklagen spezialisieren, nutzen fortschrittliche Software und Algorithmen, um eine Vielzahl von Fällen schnell und effizient zu bearbeiten. Dies ermöglicht es ihnen, mehr Mandanten zu gewinnen und gleichzeitig die Bearbeitungszeit zu verkürzen. Dies wird auch gesetzlich gefördert. Ein Beispiel für diese Entwicklung ist die Neuregelung des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes (KapMuG), die darauf abzielt, die Effizienz von kapitalmarktrechtlichen Massenklagen zu steigern und die Verfahrensdauer zu verkürzen. Ebenso elektronische Akten, Gerichtspostfächer und Zustellungen, Signaturen sowie die Ermöglichung von Video-Konferenzen für Gerichtsverhandlungen, nicht erst durch die neue ab Mai 2025 geltende Justizdigitalisierungs-VO.

Die Rolle der Rechtsschutzversicherer ist in diesem Kontext nicht zu unterschätzen, da sie oft die Kosten für solche Verfahren übernehmen Dies erleichtert es den Mandanten, ihre Rechte geltend zu machen, ohne sich um die finanziellen Aspekte sorgen zu müssen. Im Idealfall leistet er nur eine Unterschrift für die Prozessvollmacht und darf sich dann einfach nur überraschen lassen, wenn das Geld fließt., ohne sich über das Verfahren weiter informieren zu lassen. Darüber hinaus haben sich Legal-Tech-Dienstleister etabliert, die technische Lösungen für spezifische Fälle wie Flugverspätungen anbieten. Hierbei werden öffentlich zugängliche Datenbanken genutzt, um Ansprüche automatisiert zu bearbeiten, wobei der Mandant lediglich sein Flugticket beisteuern muss. Auch die Einholung der Rechtsschutzzusage sowie die Mandantengenerierung ist technologiegestützt – Werbebanner im Internet nicht unüblich. Durch reine „Dunkelverarbeitung“ beim Rechtsschutzversicherer mittels KI braucht es dort keine Prüfung durch Sachbearbeiter.

Die Zusammenarbeit zwischen Anwälten und IT-Anbietern hat auch zur Gründung spezialisierter Kanzleien geführt, die sich auf die Abwehr von Massenklagen konzentrieren. Ein Beispiel hierfür ist die Kanzlei Classreaction, ein Joint Venture zwischen Deloitte Legal und Frommer Legal, das sich auf die technikgestützte Abwicklung von Verbraucherklagen spezialisiert hat. Die gleichen Technologieanbieter beliefern meist alle Seiten mit geeigneten Produkten.

Diese Entwicklungen zeigen, dass der Rechtsmarkt im Begriff ist, sich grundlegend zu verändern. Die industrielle Bearbeitung von Massenklagen und die damit einhergehende Spezialisierung auf standardisierte Angebote sind ein klares Zeichen dafür, dass die Rechtsbranche zunehmend von technologischen Innovationen beeinflusst wird. Dies bietet sowohl Chancen als auch Herausforderungen: Einerseits können Mandanten von schnelleren und kostengünstigeren Verfahren profitieren, andererseits müssen sich traditionelle Kanzleien an die neuen Gegebenheiten anpassen, um wettbewerbsfähig zu bleiben – auch in Folge diejenigen auf Beklagtenseite.

Die Zukunft des Rechtsmarktes wird zweifellos von der weiteren Integration von Technologie und der Anpassungsfähigkeit der Rechtsdienstleister, der Justiz sowie von ggf. erforderlichen Gerichts-Sachverständigen abhängen. Es bleibt kaum die Zeit, abzuwarten, wie sich diese Trends weiterentwickeln und welche Auswirkungen sie auf die Rechtspraxis und die Gesellschaft als Ganzes haben werden.

Die Evolution der Massenklagen und Musterfeststellungsklagen in Deutschland

In den letzten Jahren hat sich das deutsche Rechtssystem zunehmend auf die Abwicklung von Massenklagen eingestellt. Dies ist eine Reaktion auf die steigende Anzahl von Fällen, in denen eine große Anzahl von Klägern gleichgelagerte Ansprüche geltend macht. Etwa weil bei Massenprodukten auch massenweise die gleichen Fehler vorlagen, auch weil man regulierende Gesetze und Vorschriften in gleicher Weise falsch verstand. Die Gerichte haben begonnen, sich durch die Bildung spezialisierter Kammern, personelle Verstärkungen und gegebenenfalls durch die Schaffung von Netzwerken auf diese Entwicklung einzustellen. Ein wesentlicher Aspekt dieser Anpassung ist die Standardisierung des Verfahrensablaufs, die sich von der Formulierung der Texte über Beweisbeschlüsse bis hin zu den Urteilen erstreckt. Die Beifügung erster „Muster“-Urteile in Klageschriften und Klageerwiderungen verstärkt diesen Effekt. Dazu noch der Versuch mancher Gerichte, durch möglichst einfache Urteilsbegründungen ohne große Beweisaufnahme Klagen stattzugeben, solange der BGH es nicht anders sieht.

Die Standardisierung in Massenverfahren ist jedoch nicht ohne Herausforderungen. Sie muss die Anforderungen der Zivilprozessordnung (ZPO) erfüllen, die Form und Inhalt von Schriftsätzen regelt, unabhängig davon, ob sie für einen Einzelfall oder für eine Vielzahl von Fällen erstellt werden. Die ZPO verlangt, dass eine Klageschrift neben einem bestimmten Antrag auch Angaben zum Gegenstand und zum Grund des erhobenen Anspruchs enthält. Dieses Bestimmtheitserfordernis steht in einem Spannungsverhältnis zur notwendigen Standardisierung in Massenklagen, da sich die Sachverhalte zwar ähneln, aber im Detail unterscheiden können. Doch zeigt sich, dass auch weitgehende Unkenntnis von den Tatsachen Massenklagen nicht hindert, denn es können dabei auch Auskunftsansprüche geltend gemacht werden, die großenteils dann bereits freiwillig in den Klageerwiderungen erfüllt werden. Womöglich auch aus dem Grunde, um das Verfahren wieder auf den weiter standardisierten Weg zu bringen.

Ein weiterer Weg, den der Gesetzgeber zur Bewältigung von Massenklagen eingeschlagen hat, ist das Musterklageverfahren, das 2018 mit der Einführung der Musterfeststellungsklage ins Leben gerufen wurde. Diese Art der Klage ermöglicht es, dass qualifizierte Verbraucherschutzverbände stellvertretend für die Verbraucher gegen Unternehmen klagen können. Die Musterfeststellungsklage zielt darauf ab, das Kräfteverhältnis zwischen Verbrauchern und Unternehmen auszugleichen und die Ansprüche der Verbraucher effektiver durchzusetzen.

Trotz dieser Fortschritte gibt es immer noch Herausforderungen bei der Umsetzung solcher Musterklageverfahren. Beispielsweise können nicht alle relevanten Fragen in einem Musterklageverfahren geklärt werden, und es gibt Fälle, in denen eine Vorlage beim Bundesgerichtshof (BGH) und eine Aussetzung des Verfahrens nicht möglich sind. Dies kann dazu führen, dass einzelne Kläger weiterhin individuell klagen müssen, um ihre Ansprüche geltend zu machen.

Die Entwicklung der Massenklagen und Musterfeststellungsklagen in Deutschland zeigt, dass das Rechtssystem derzeit noch flexibel genug ist, um auf neue Herausforderungen zu reagieren. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Balance zwischen Effizienz und individueller Gerechtigkeit ein fortlaufender Prozess ist, der ständige Anpassungen und Verbesserungen erfordert. Nicht selten verhindert am Ende der BGH den Versuch einer „effizienten“ Lösung – manches Gericht hat so die effizient (aber untauglich) gelösten Fälle bereits massenweise wieder auf dem Tisch.

Die Klagegegenstände von Massenklagen sind standardisiert

Es sind „Industrien“ betroffen, die relativ gleichförmige Produkte herstellen, die bestimmten Regulierungen oder – nicht nur technischen – Standards unterliegen. Das ist bei KFZ der Fall, Pharma, Chemie (z.B. gab es da die Holzschutzmittel), Medizinprodukten (wie Silikonimplantate), Rückabwicklung von Lebensversicherungen und auch Privater Krankenversicherung (PKV) – hier besonders Beitragsanpassungen. Der Mandant muss etwa nur seine Versicherungsscheine zu Beitragsanpassungen zuliefern, oder gar nur die Vollmacht unterschreiben, wonach dann der RA entsprechende Auskunft einholen kann. Die Tatsachenbehauptungen sind beschränkt, etwa weil mangels bekannter Unterlagen (Geschäftsgeheimnisse!) ohnehin sekundäre Darlegungs- und teils auch Beweislast beim beklagten Versicherer liegt. Aufgrund regelmäßiger strafbewehrter Geheimhaltungsverpflichtung kennt der Klagevertreter die Unterlagen nicht einmal dann, wenn sie auf seinem Computer aus anderen Fällen gespeichert sind

In der PKV gibt es gesetzlich (wenn auch mit unbestimmten Rechtsbegriffen) bestimmte gleichförmige Methoden der Kalkulation und des Ablaufs bei Beitragsanpassungen. Ferner vorgegebene einheitliche Formeln bis hin zu den Bezeichnungen, Musterbedingungen, standardisierte Technische Geschäftspläne bis zu gleichen Abschnitts-, Anhang- und Anlagennumerierungen, und den Inhalten, sowie den Anforderungen daran. Es gibt auch eine gesetzliche Anforderung, dass alles nachvollziehbar dokumentiert sein muss. Die Deutsche Aktuarvereinigung (DAV) setzt hier Standards, die Ausbildung ist einheitlich, und die Treuhänder sind auch unter sich vernetzt, es gibt Treffen mit den Verantwortlichen Aktuaren der Branche. Die eher wenigen Treuhänder haben mehrere Versicherer, übernehmen durch Treuhänderwechsel neue, und streben auch deshalb möglichst starke Standardisierung von Inhalten und Abläufen an.

Massenklagen und die Standardisierung von Klagegegenständen

Die Welt der Massenklagen ist komplex und vielschichtig, doch ein Aspekt bleibt konstant: die Notwendigkeit der Standardisierung. Dies gilt insbesondere für Industrien, die gleichförmige Produkte herstellen und sich an spezifische Regulierungen halten müssen. Die Automobilindustrie, Pharmabranche, Chemieunternehmen oder die PKV sind nur einige Beispiele, in denen standardisierte Klagegegenstände zum Tragen kommen.

Die Standardisierung ermöglicht es, dass bei Massenklagen nicht jeder einzelne Fall individuell betrachtet werden muss, sondern dass gemeinsame Nenner identifiziert und als Grundlage für die Klage verwendet werden können. Dies vereinfacht den Prozess für die Kläger, die lediglich etwa in der PKV ihre Beitragsanpassungsmitteilungen vorlegen oder – wenn sie sie nicht finden – dem Anwalt auch eine Vollmacht zur Informationsbeschaffung erteilen müssen.

Ein Bereich, in dem diese Standardisierung besonders deutlich wird, ist die private Krankenversicherung (PKV). Hier gibt es gesetzlich festgelegte, einheitliche Methoden der Kalkulation und des Ablaufs bei Beitragsanpassungen. Diese umfassen standardisierte Formeln, Musterbedingungen und technische Geschäftspläne, die oft bis in kleinste Detailregelungen hinein normiert sind. Die vorgeschriebene Gleichbehandlung der Versicherten erfordert, dass davon nicht abgewichen wird – wenn etwas falsch ist, ist es in gleicher Qualität immer falsch. Die Deutsche Aktuarvereinigung (DAV) spielt eine zentrale Rolle bei der Festlegung dieser Standards, und die Ausbildung der Aktuare inklusive Prüfungen und berufs-standesrechtlichen Verfahren bei Abweichungen ist einheitlich geregelt.

Auch die zur Zustimmung zu Beitragsanpassungen erforderlichen Treuhänder streben eine möglichst starke Standardisierung von Inhalten und Abläufen an, um Effizienz und Transparenz zu gewährleisten. Der BGH hatte allerdings Ansichten eine Absage erteilt, es müsse eine wirtschaftliche Unabhängigkeit des Treuhänders vorliegen – vielmehr seien Beitragsanpassungen ohnehin mit Hilfe von Sachverständigen gerichtlich voll zu überprüfen. Versuche vieler Gerichte, über den „gesetzeswidrig abhängigen“ Treuhänder die Klage stattgebend effizient und einfach zu entscheiden, haben sich so als untauglich erwiesen. Ebenso dass eine Beitragsanpassung unwirksam wäre, nur weil kein vollständiges tarifübergreifendes Limitierungskonzept mit allen Tarifbestands-Details vorlag, oder bereits die Anpassungsklausel unwirksam sei.

Die Standardisierung in der PKV und anderen Industrien zeigt, wie wichtig klare und nachvollziehbare Prozesse sind, um die Rechte der Verbraucher zu schützen und gleichzeitig die Effizienz im Rechtssystem zu steigern. Sie ermöglicht es, dass Massenklagen nicht zu einer unüberschaubaren Belastung für das Justizsystem werden, sondern dass sie als effektives Mittel zur Durchsetzung von Verbraucherrechten bzw. des verfassungsmäßig verlangten effizienten Rechtsschutzes dienen können. Dies ist ein entscheidender Schritt in Richtung eines gerechteren und zugänglicheren Rechtssystems für alle. Selbst wenn in vielen Fällen Klagen am Ende abgewiesen werden, ist mindestens der Rechtsfrieden hergestellt. Die Honorare und Gerichtskosten zahlt auch dann die Rechtsschutzversicherung. Der Vorhaltung mancher, sie seien Beitragsanpassungen „wehrlos ausgeliefert“, kann so entgegengetreten werden – wer will, kann sie ja gerichtlich inklusive Gerichtsgutachten überprüfen lassen, wie schon das Verfassungsgericht Ende 1999 feststellte.

Zwar gibt es einen Engpass etwa bei Sachverständigen für die Versicherungsmathematik in der PKV mit Auslastung oft bis über 2028 hinaus – doch angesichts Stundensätzen im außergerichtlichen Bereich von weit über 300 EUR können wie schon bei den Treuhändern mehr Aktuare auch noch weit ins Rentenalter hinein dafür gewonnen werden. Denn die bis zu maximal 155 EUR Stundensatz laut Justizvergütungs- und Entschädigungsgesetz (JVEG) können mit Zustimmung bereits einer Partei und (wie dann regelmäßig erteilt) des Gerichts auch noch verdoppelt werden.

Dass mehr Sachverständige eine „Klageindustrie“ noch befeuern, ist kaum anzunehmen. Ihre finanzielle Basis hängt nicht davon ab, ob und wann genug Sachverständige zur Verfügung stehen – nur wegen zu weniger Sachverständigen wird sicher auf keine einzige Klage verzichtet.

Meldung: Dr. Johannes Fiala, PhD, RA, MBA Finanzdienstleistungen (Univ.), MM (Univ.), Geprüfter Finanz-und Anlageberater (A.F.A.), Bankkaufmann (www.fiala.de) und Dipl.-Math. Peter A. Schramm, Sachverständiger für Versicherungsmathematik, Aktuar DAV, öffentlich bestellt und vereidigt von der IHK Frankfurt am Main für Versicherungsmathematik in der privaten Krankenversicherung (www.pkv-