Die Natur ist meine vierte Hauptfigur Ein Gespräch mit Regisseur und Autor Jan Zabeil zu seinem Film DREI ZINNEN (2017)


Was ist der Ursprung von DREI ZINNEN?
Ich bin thematisch nicht ganz unbelastet, weil ich von Kindesbeinen an in einer verwandten Konstellation aufge- wachsen bin. Wobei ich dann doch einen völlig anderen Film gemacht habe, der mit meiner Geschichte nicht viel zu tun hat, aber ich kenne sehr gut die Strukturen, kenne die Dynamik, kenne die emotionalen Untiefen, besonders aus der Perspektive des Kindes.

Das wollten Sie filmisch verarbeiten?
Nein, ich wollte nichts verarbeiten, aber es ist sicherlich ein Thema unserer Zeit, über das nicht genug geredet wird, das haben mir Familienrichter, Anwälte und Therapeuten gleichermaßen in meinen Recherchen bestätigt. Als Gesellschaft sind wir durch die Achtziger- und Neunzigerjahre gegangen, haben uns auseinandergesetzt mit Rollenbildern innerhalb der Familie, haben über fehlende Väter nach Trennungen und unterlassene Unterhalts- zahlungen diskutiert, und wie man mit Kindern nach der Trennung umgeht. Nicht, dass diese Probleme nun gelöst wären, aber zumindest wurden diese Fragestellungen durch den Diskurs der letzten Jahrzehnte ins kollektive Bewusstsein gehoben. In DREI ZINNEN steht der neue Partner eines Elternteils im Fokus, insbesondere sein Handlungsspielraum und Hadern mit seiner Rolle innerhalb der neuen Patchworkfamilie. Diesem Konflikt wird ein achtjähriger Junge gegenübergestellt, der durch jegliches Gefühl der Zuneigung gegenüber dem neuen Mann seiner Mutter in einen Loyalitätskonflikt mit seinem Vater gerät und daher konstant schwankt zwischen Nähe und Distanz, Bewunderung und Abwehr. Anhand dieser Konstellation ergeben sich universelle Fragestellungen: Was bedeuten Rollenbilder in zwischenmenschlichen Beziehungen? Was ist, wenn Gefühle entstehen, die man sich nicht zugestehen mag?

Wie hat diese Grundidee filmische Form angenommen?
Ich komme sehr stark vom Bild, ich habe Kamera studiert, ich male mit Öl im Studio. Mir geht es zunächst um Visualität, Atmosphäre, Spannung. Ich weiß sehr früh, wie diese Elemente in meinen Filmen aussehen sollen und kenne auch ihren ungefähren atmosphärischen Verlauf, bevor ich anfange zu schreiben. Ich wusste früh, wann der Nebel aufzieht. Aber ich wußte lange nicht genau, was passiert, bis es soweit ist. Im ersten Teil erzähle ich eine Konstellation, versuche sie so genau wie möglich zu beschreiben. Und im zweiten Teil erzähle ich, was ein potenzielles Schicksal aus dieser Konstellation machen könnte. Das erste ist eine Definition, das zweite eine Was-wäre-wenn- Frage: Was passiert, wenn ich dem Drama innerhalb dieser Konfliktkonstellation seinen freien Lauf lasse?

Was war Ihnen dabei wichtig?
Ganz entscheidend für mich war, dass die Story so wenig Kontrolle über den Film erhalten sollte wie möglich. Ich wollte den Plot so präzise, in diesem Sinne so minimal wie möglich halten, um soviel Freiheit wie nur denkbar zu haben bei der Gestaltung des Films.

Von Anfang an stand im Fokus, viele Deutungsperspektiven zu ermöglichen. Jeder kann in den Figuren und in der Konstellation etwas Anderes sehen. Um das möglich zu machen, war es wichtig, nicht nur einer einzelnen Figur die Verantwortung für das Scheitern dieser Familie aufzubürden, sondern diese mehr oder weniger ausgewogen auf mehreren Schultern zu verteilen.

Ist das ein langwieriger Prozess?
Natürlich! Die zeitmäßig aufwendigsten Phasen waren die Arbeit am Drehbuch und später auch der Schnitt. Ich wusste, diese Archaik in den Motiven, das Schicksalhafte der Handlung, ist nur dann glaubwürdig, wenn man ihm eine entsprechende Erdung im zwischenmenschlich Realen bzw. zumindest im Realitätsempfinden des Zuschauers gibt. Denn auf der anderen Seite arbeite ich mit Symbolen, zum Beispiel mit der Heiligen Maria oder der Erschaffung Adams von Michelangelo, diese würden sich ansonsten zu sehr in den Vordergrund drängen. Aaron will da oben auf dem Berg zum Vater werden, aber er wird eigentlich fast zur Mutter, wenn er das Kind in den Armen hält und trägt wie die Heilige Maria ihr Kind. Das muss man natürlich nicht lesen können, um den Film erleben zu können.

Aber es durchdringt den Film und ist natürlich wichtig.
Ich verlange Einiges von meinem Publikum, das ist mir bewusst: Es muss mir glauben, dass der Sommer binnen weniger Tage in Winter umschlägt, dass die Figuren relativ unempfindlich für Kälte sind. Aber es funktioniert, weil es kein Selbstzweck ist und sich Drehbuch und Schnitt an anderer Stelle unbedingt dem Realismus verpflichtet fühlen. Wenn also alles Andere nachvollziehbar ist, wird das praktisch Unmögliche auch plausibel.

Zu welchem Zeitpunkt wurde Aaron zu Alexander Fehling?
Das war mir von Anfang an klar. Die Arbeit mit ihm an DER FLUSS WAR EINST EIN MENSCH war für uns beide so produktiv, so ergiebig, so unvergleichlich, dass wir unsere Zusammenarbeit unbedingt fortsetzen wollten. Damals waren wir drei Monate zu viert im südlichen Afrika unterwegs, also Alexander und ich mit einem Ton- und einem Kameramann und vielen Helfern und Laien von dort. Alexander war zugleich Co-Autor, Kameraassistent, Bootsführer und ich Expeditionsleiter, der einen Film ohne Drehbuch machen wollte, ausgestattet mit einem sechsseitigen Treatment. Wenn man einmal ein solches Wagnis und Abhängigkeitsverhältnis gemeinsam erlebt und daran gewachsen ist, weiß man auch, was man aneinander hat. Er ist jemand der sich voll und ganz einlässt, sei das Vorhaben auch noch so aberwitzig oder unmöglich, aus tiefem Interesse für die Themen und Handlungs- optionen seiner Figur. Er liebt es, verschiedene Varianten dieser Figur zu durchleben, ob in Gedanken im Vorfeld oder beim Dreh. Ich sortiere diese Facetten zum Teil gemeinsam mit ihm, sammle diese und entscheide oft erst im Schnitt welche ich davon verwende und welche nicht, das gibt uns ein ungeheures Gefühl von Freiheit während die Kamera läuft. Alexander war von Anfang an als Aaron gesetzt, bzw. ich habe die Rolle für ihn geschrieben.

Wie involviert war er in die Entstehung?
Sehr. Wir kommen aus der gleichen Stadt, wir sind fast gleich alt, wir kennen uns auch privat. Ich fühle mich ihm verbunden und von ihm repräsentiert. Er ist wie ein Werkzeug einer Variante meiner selbst. Aber natürlich ist er viel viel mehr als das. Er ist mein Gegenüber, mein Sparring-Partner und ein vielseitig begabter Mensch. Er liest das Drehbuch als einer der ersten, stellt Fragen und gibt sich nur mit den präzisesten und durchdachtesten

Antworten zufrieden. Er bringt viele Assoziationen und Gedanken mit, die schon früh in das Entstehen der Figur einfließen. Aus meinem Wunsch, die Figur zu erden, macht er eine Radikalumstellung seines Essens und nimmt binnen zweier Monate zehn Kilo zu. Er probiert verschiedene Musikinstrumente, übt und komponiert eine Musik, die es aus der Szene heraus auch in den Abspann geschafft hat und einfach nur umwerfend melancholisch und gefühlvoll ist.

Noch vor den Dreharbeiten hat er sich über jeden Winkel der Geschichte und seiner Figur Gedanken gemacht, beim Dreh dann scheint es so, als wüsste er gar nichts mehr, als sei er einfach nur noch voll und ganz da. Diese Kombination aus extremer Kenntnis der Figur und der Geschichte und seiner Fähigkeit, voll im Moment zu sein, zeichnet ihn auf herausragende Weise aus.

Die Suche nach dem richtigen Jungen war also schwieriger?
Meine Casterin Tanja Schuh hat lange gesucht, an Schulen, bei Agenturen und hat mir Bänder von mindestens 60 Kindern gezeigt, die sie gefilmt hatte. Als ich Arian (Montgomery) sah, war mein Interesse gleich geweckt. Im Casting war er dann so klug, selbstbewusst und spielerisch, das hat uns allen richtig Spaß gemacht. Und zu unserer Überraschung war er problemlos in der Lage, Worte wiederzugeben, die ich ihm „live“ vorgab, ohne seinen Blick von Alexander abzuwenden oder auch nur eine Sekunde aus der Rolle zu fallen. Er brachte eine unglaubliche Kraft mit, ein Junge, der sich nicht verbiegen lässt. Wenn er auf etwas keine Lust hatte, dann hat er es auch nicht gemacht. Was auch dazu führte, dass wir manchmal nicht drehen konnten. So ein Selbstvertrauen muss man als Achtjähriger erst einmal haben! Mir hat das sehr imponiert. Aber noch viel beeindruckender war es, wie er es geschafft hat, Szenen zu wiederholen und meine Texte so zu sprechen, als wären es seine Worte. Oft hatte ich ihm nur wenige Minuten zuvor die Texte gegeben und die Szene erklärt. Dann hatte er richtig Lust auf die Szene und konnte kaum Abwarten bis es losging.

Er trug ja auch eine wahnsinnige Verantwortung.
Wir hatten 33 Drehtage, letztes Jahr im Sommer in Südtirol, fast alle zwischen 2.100 und 2.500 Höhenmetern. Wir durften drei Stunden pro Tag mit ihm drehen, und er ist im Grunde fast in jedem Bild zu sehen. Rein mathe- matisch gesehen ist es eigentlich unmöglich, dieses Pensum zu bewältigen. Aber er war einfach unglaublich gut und effektiv. Viele Einstellungen hatten wir nach der ersten oder zweiten Klappe im Kasten. Die Szene, in der Arian die Hand von Alexander berührt und „Papa“ sagt, haben wir nur einmal gedreht. Hier hat mir Alexander auch sehr geholfen. Er hat Arian bespaßt und herausgefordert, auch abseits der Dreharbeiten, sodass für Arian das vor und hinter der Kamera auf wundersame Weise zu verschwimmen schien.

Es ist ein Drei-Personen-Stück. Für die weibliche Hauptrolle haben Sie Bérénice Bejo gewonnen, in Frankreich ein Superstar. Wie überredet man sie dazu, für eine vergleichsweise kleine Rolle zuzusagen?
Ich hatte sie in LE PASSÉ gesehen und wollte sehr gerne mit ihr arbeiten. Und ich suchte nach einer Französin. Eine französische Frau, ein englischsprachiges Kind, ein deutscher Mann. Ein europäisches Thema, eine in Deutschland lebende Familie, aber jeder mit seiner eigenen sprachlichen Identität. Irgendwann hieß es: „Bérénice wants to skype with you.“ Das war kurz vor Weihnachten und kam wie ein Weihnachtsgeschenk. Und sie sagte ganz lapidar: „I love the script, and I think I want to do it.“

Ein wichtiger Aspekt des Films ist die Natur. Das bedeutete aber gewiss auch, dass es, wie Sie schon angedeutet haben, kein einfacher Dreh war?
Ich habe mir das nicht aus Selbstzweck aufgebürdet. Die Natur ist meine vierte Hauptfigur. Sie spielt eine wichtige Rolle. Für die Dramatik waren die Bilder der Berge von großer Bedeutung, weil sich die Konflikte der Geschichte eben nur über die entsprechenden Bilder richtig und effektiv erzählen lassen. Es ist vielleicht anstrengend, an diesen Originalschauplätzen zu drehen. Aber diese Orte ermächtigen die Schauspieler. Sie stellen etwas mit einem an. Sie gewährleisten eine Echtheit, eine Wahrhaftigkeit, es ist die Vermischung von realer Situation und „Dreh- arbeiten“, insbesondere für ein Kind. Und man hat den Vorteil, im Grunde in alle Richtungen drehen zu können. Man steckt ja auch als Filmteam mitten in der Situation.

Aber die Szene auf dem Eis können Sie unmöglich in der Natur gedreht haben?
Das war vermutlich die wahnwitzigste Szene, die wir gemacht haben. Wir haben tatsächlich am Originalschauplatz gedreht – und Benny Drechsel hat es mitgetragen, das rechne ich ihm immer noch sehr hoch an. Der Szenograph Michael Randel und sein Team haben ein riesiges Loch in das 70 Zentimeter dicke Eis eines Eissees gebohrt. Von unten haben wir dann an die Eisdecke ein Bassin angebracht, das wir mit 18 Grad warmem Wasser gefüllt haben und in das wir Eisbrocken warfen, um die perfekte Illusion zu erzielen. So haben wir die Szene in einem echten Eissee gedreht. Es war unglaublich und hat fantastisch funktioniert. Die Kamera konnte regelrecht dokumentarisch drehen.

Fiel es Ihrem Kameramann Axel Schneppat leicht, mit Ihnen als gelerntem Kameramann zu arbeiten?
Ich glaube, dass es Kameramänner mögen, wenn sie mit Regisseuren arbeiten, die eine klare Vorstellung von der visuellen Gestaltung ihrer Filme haben und wissen, was sie wollen. Ich als Kameramann jedenfalls weiß das sehr zu schätzen, und ich glaube, für Axel war das ähnlich. Aber ihm ist es immer wieder gelungen, auch auf seine eigene visuellen Entdeckungsreisen zu gehen. Mit einem ausgesprochen feinen Gefühl hat er genau das einge- fangen, was wichtig war, um den Film in all seinen Facetten erzählen zu können. Ich konnte ihm sein Feld komplett überlassen. Wir haben uns am Anfang ausgetauscht, danach hat er seine Arbeit gemacht, phänomenal präzise und zuverlässig.

Quelle: NFP Marketing & distribution

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