Kommentar und Interview mit Jia Zhang-Ke ASCHE IST REINES WEIß (2018)


Während des Schnitts meiner vorherigen Filme UNKOWN PLEASURES (2002) und STILL LIFE (2006), in denen auch Zhao Tao mitgespielt hat, habe ich die Geschichten komprimiert, indem ich einige ihrer Liebesszenen rausgeschnitten habe, kommentiert Regisseur Jia Zhang-Ke. Als ich mir jedoch diese Szenen wieder angeschaut habe, sind die zwei Charaktere, die sie gespielt hat, irgendwie in meinen Gedanken verschmolzen. In meiner Vorstellung ist diese Frau in meiner Heimatstadt geboren und aufgewachsen, in einer Bergbauregion im Nordwesten Chinas. Ihr Name ist Qiao und sie hat sich in einen Typen aus dem Jianghu verliebt, einer Art Mafia-Organisation. Die Liebe und der Schmerz der beiden eröffnen die Geschichte. 2006 sind sie dann mittleren Alters und der Mann verlässt sie. Sie folgt ihm in einen anderen Teil des Landes, doch ihre Beziehung ist zerbrochen. Alles, was von diesem Moment an passiert, entspringt meiner Vorstellung.

Wenn ich mir die Figur anschaue, die Zhao Tao in UNKNOWN PLEASURES spielt, dann sehe ich Reinheit, Schlichtheit und bedingungslose Liebe. Wenn ich dann wiederum die Figur in STILL LIFE anschaue, sehe ich Komplexität, Traurigkeit und eine Fassade, die ihre wahren Gefühle versteckt. Die aus den Filmen herausgeschnittenen Szenen haben mich dazu gebracht, mir vorzustellen, was heute aus dieser Frau geworden wäre – und aus dem Mann, den sie einst liebte.

Ich habe mir den chinesischen Titel des Films JIANG HU ER NU vom letzten Projekt von Fei Mu geliehen, dem chi- nesischen Meister der Filmkunst der 30er und 40er Jahre. Das Drehuch von Fei Mu wurde später von Zhu Shilin ver- filmt mit dem englischen Titel THE SHOW MUST GO ON. Mein Film hat zwar mit dessen Geschichte nichts zu tun, aber ich liebe den chinesischen Titel. Das chinesische Wort „Ernu“ bezeichnet Männer und Frauen, die es wagen, zu lieben und zu hassen. „Jianghu“ wiederum (wörtlich „Flüsse und Seen“, aber die Übersetzung erfasst nicht die ganze Bedeutung) beschwört eine Welt dramatischer Emotionen und reeller Gefahren. Wenn man beide Wörter zusammen nimmt, stellt man sich Menschen vor, die es wagen, gegen den Strom zu schwimmen und die nach der Moral von Freund- und Feindschaft, von Liebe und Hass leben.

Der chinesische Titel sagt im Prinzip fast alles. Das Paar im Film lebt am Rand der Gesellschaft, sie überleben, indem sie die orthodoxe Gesellschaftsordnung herausfordern. Ich habe mir nicht vorgenommen, sie zu verteidigen, sondern wollte eher ihr Dilemma herausstellen. Es erinnert mich in gewisser Weise an das erste Jahrzehnt meiner Karriere, als es noch riskant war, Filme zu machen, in denen man seine eigene Wahrheit und die Wahrheiten über die Gesellschaft ausdrückt. Und so habe ich mich ans Drehbuchschreiben gemacht, als ob ich über meine eigene emotionale Reise schreiben würde: meine verlorene Jugend und meine Zukunftsfantasie, zu leben, zu lieben und frei zu sein.

Im ersten Teil des Films steht Jianghu für die Konflikte zwischen den rivalisierenden Gruppen der Unterwelt in Shanxi. Er zeigt auch das Krisengefühl einer älteren Generation angesichts der jüngeren. Und es ist eine Geschichte wie im Western, die in den trostlosen Landschaften und dem kalten Klima der Bergbaugegend spielt. Der zweite Teil des Films spielt am Fluss Jangtse (auf Chinesisch „Chang Jiang“), dort, wo das Drei-Schluchten-Dammbauprojekt ganze Orte zum Verschwinden bringt. Der letzte Teil bringt uns zurück nach Shanxi, von wo der männliche Protagonist Bin sich auf eine neue Reise begibt, weil er das Jianghu braucht – die Orte, die sein inneres Drama zum Leben erwecken. Dies ist auch, wohin es Qiao zieht.

Es gibt einen Ort, den Qiao nie erreicht, und das ist Xinjiang in Chinas tiefstem Nordwesten. Vielleicht hat jeder einen solchen Ort, den man nie erreicht, nicht weil er zu weit weg ist, sondern weil es so hart ist, ein neues Leben zu beginnen. Wir können uns nicht von unseren emotionalen Fesseln lösen, von den Lieben, Erinnerungen und Routinen, die uns am Höhenflug hindern. Diese Bande sind wie die Schwerkraft, die uns an diesen Planeten bindet. Ich habe jetzt 48 Jahre Lebenserfahrung, und ich möchte sie nutzen, um eine Liebesgeschichte im heutigen China zu erzählen, das gewaltige und dramatische Veränderungen erlebt hat. Ich habe das Gefühl, dass ich genauso auch selbst gelebt habe – und es immer noch tue.

Jia Zhang-Ke, April 2018

Interview mit dem Regisseur

Warum haben Sie sich auf Charaktere fokussiert, die aus der Jianghu-Unterwelt kommen?

Das Geheimnisvolle des Jianghu ist ein sehr wichtiger Teil der chinesischen Kultur. Viele Unterweltorganisationen formierten sich im alten China, verwurzelt in speziellen Gewerben oder Regionen. Es waren Netzwerke, die über Familienbeziehungen und lokale Clan-Zugehörigkeiten hi- nausgingen, der Unterschicht halfen und ihnen andere Lebensweisen eröffneten. Das verbreiteteste Symbol der Jianghu-Kultur ist General Guan Yu. Er repräsentiert Loya- lität und Gerechtigkeit, die Kernwerte des Jianghu. In der Eröffnungsszene des Films kann man gut sehen, wie er als spirituelles Totem funktioniert.

Nach dem Sieg der Kommunisten im Jahr 1949 versch- wand die chinesische Unterwelt nach und nach. Die Cha- raktere in ASCHE IST REINES WEISS sind daher nicht wie die der alten Gangs. Sie entstanden nach der „Reform- und Öffnungspolitik“ der späten 1970er Jahre, sie sind die Erben des brutalen Vermächtnisses der Kulturrevolution. Ihre Moral und ihre Rituale übernahmen sie aus den Hong-kong-Gangsterfilmen der 1980er Jahre. Sie entwickelten eine eigene Art, sich gegenseitig zu helfen, um das Überle- ben unter all den drastischen sozialen Veränderungen, die China während der Zeit durchlief, zu sichern.

Das Jianghu ist eine Welt voller Abenteuer und eine Welt einzigartiger Gefühle. Ich war schon immer an Liebesge- schichten des Jianghu interessiert, wo sich die Charaktere weder vor Liebe noch vor Hass fürchten. Die Geschichte des Films spielt in der Zeit von 2001 bis 2018, einer Epoche des enormen sozialen Umbruchs. Die traditionellen Werte und die Art und Weise, wie die Leute leben, haben sich in diesen Jahren so massiv verändert, dass man sie nicht mehr wiedererkennt. Und dennoch behält das Jianghu sei- ne eigenen Werte und Verhaltensregeln und funktioniert auf seine Weise.

Haben sie auf reales Quellenmaterial zurückgegriffen oder ist diese Geschichte komplett fiktiv?

Sie ist fiktiv, aber basiert auf Gerüchten aus der Welt des Jianghu. Einige Details kommen von Freunden von mir.

Die erste Hälfte des Films enthält Videomaterial, das Sie vor fast 20 Jahren gedreht haben. War dieses alte Videomaterial der Ausgangspunkt für das ganze Projekt?

Ich habe 2001 meine erste digitale Videokamera bekommen und habe sie damals mitgenommen nach Datong in Shanxi. Dort habe ich auf gut Glück eine Unmenge an Ma- terial gefilmt, Leute, die ich in Fabriken sah, an Busstati- onen, in Bussen, in Festsälen, in Saunas oder Karaokebars, an allen möglichen Orten eben. Ich fuhr damit fort bis 2006, als ich STILL LIFE gedreht habe. Als ich kürzlich dieses alte Material wiedersah, war es mir plötzlich sehr fremd. Ich habe immer gedacht, dass Veränderungen in der chine- sischen Gesellschaft langsam passieren, nicht, dass sich die Sachen über Nacht verändern. Dann aber wieder dieses alte Material zu sehen, war ein Schock für mich, es hat mir klargemacht, wie plötzlich sich die Dinge verändert haben. Nur durch diese alten Videos konnte ich mich erinnern, wie die Dinge vorher aussahen. Bevor ich das Drehbuch für ASCHE IST REINES WEISS schrieb, habe ich aus dem alten Material eine zehnminütige Dokumentation zusammengeschnitten, was wieder viele Erinnerungen lebendig werden ließ. ASCHE beginnt mit so einer Aufnahme aus einem Linienbus. Ich wollte den Film damit beginnen, weil abenteuerliche Reisen im Zentrum der Jianghu-Mythologie stehen. Die Gesichter im Bus er- innern mich an das Jianghu-Sprichwort: „Wo auch immer Menschen sind, existiert auch das Jianghu.“ Der Name Ji- anghu heißt wortwörtlich „Flüsse und Seen“, aber in der chinesischen Philosophie bedeutet er „andere Menschen“. Die Charaktere in der Geschichte haben mehr Leute getrof- fen als die meisten von uns. So musste der Film mit einem Gruppenbild beginnen.

Sie kehren im zweiten Teil des Films zum Drei-Schluchten- Damm zurück, in eine Region, die sowohl Chinas Entwick- lung und Fortschritt repräsentiert als auch den Verlust der alten Gemeinden und Traditionen. Was interessiert Sie an dieser Region?

Ja, das Gebiet ist zu einem wichtigen Ort für meine Filme geworden, weil es die drastischen Veränderungen des mo- dernen China sichtbar werden lässt und weil die eigentliche Landschaft mehr oder minder gleichgeblieben ist. Es sieht dort nach wie vor wie ein klassisches chinesisches Gemälde aus.

Der Drei-Schluchten-Damm liegt im Jangtse. Unzählige Schiffe bringen jeden Tag neue Leute her und andere wie- der weg. Es gibt ein Gefühl ständiger Bewegung und des permanenten Chaos. Das Damm-Projekt hat dazu geführt, dass ein großer Teil der Bevölkerung im Gebiet umgesie- delt werden musste. Auf einer Seite also ein gigantisches staatliches Projekt, auf der anderen Seite zerbrechende Fa- milien und Liebesbeziehungen. Die Geschichte des Films beginnt in Datong, in der Provinz Shanxi im kalten und trockenen Norden, und geht dann zum Drei-Schluchten- Damm im warmen und feuchten Südwesten. Die gewal- tigen Unterschiede der verschiedenen Welten eröffneten große Möglichkeiten für den Film.

Welche Jianghu-Filme anderer Regisseure sind Ihre Vorbilder?

Von Zhang Cheh über John Woo bis hin zu Johnnie To sind viele Jianghu-Klassiker aus dem Hongkong-Kino meine al- ten Lieblingsfilme. In ASCHE IST REINES WEISS habe ich den Soundtrack von John Woo‘s THE KILLER verwendet, in der Szene in der Karaokebar und der Szene mit der Straßenschießerei.

Sie haben dieses Mal mit einem anderen Kameramann gear- beitet, nämlich mit Eric Gautier, der bekannt ist für seine Ar- beit mit Olivier Assayas, Walter Salles und Leos Carax. Was war das Besondere an dieser Zusammenarbeit?

Ich habe seit meinem Debütfilm XIAO WU (PICKPOCKET) mit Yu Lik-Wai zusammengearbeitet, als ich jedoch in der Vorbereitung zu ASCHE IST REINES WEISS war, war er leider schon mit einem anderen Film beschäftigt. Wir sind beide gleichzeitig auf Eric Gautier gekommen. Yu spricht sehr gut Französisch und hat Eric für mich kontaktiert und nach China eingeladen, um mit mir an dem Film zu arbeiten. Mein erstes Treffen mit Eric war in Peking. Er und Olivier Assayas steckten zu dem Zeitpunkt mitten in Dreharbeiten. Ich habe sein außergewöhnliches Talent in den Filmen von Assayas und Walter Salles gesehen und fühlte mich daher sehr geehrt, dass ich eine Chance hatte, mit ihm einen Film zu drehen. Die erste Hürde für Eric war die Sprachbarriere, doch er überraschte mich mehrfach am Set durch seine genaue Kenntnis des Drehbuchs. Er kannte jeden Text der Schauspieler auswendig. Auch die Improvisationen verstand er sofort. Sprache war also kein Problem für uns. Nach ein paar Tagen am Set habe ich angefangen, gewagte Entscheidungen für den Ablaufplan der Szenen zu treffen. Er hat sich nie davon beeinflussen lassen. Ich bin sehr dank- bar, dass ich einen Kameramann gefunden habe, der mich mit so starken Bildern unterstützen konnte.

Eric respektierte auch mein altes Bildmaterial, das ich mit einer DV-Kamera aufgenommen hatte. Wir haben uns ent- schieden, fünf verschiedene Kameras für den Film zu nut- zen, sodass die unterschiedlichen Bildtexturen den Zeitun- terschied in der Geschichte hervorheben. Wir haben für die ersten Szenen DV und dann später Digibeta und HD-Video genutzt. Für den Teil des Films am Drei-Schluchten-Damm haben wir auf 35mm gedreht. Und für das Ende des Films haben wir unsere neue REDWEAPON Kamera genommen. Eric hat es geschafft, all die unterschiedlichen Bildquellen und Bildtexturen zu verbinden.

Vier bekannte Regisseure spielen in Ihrem Film mit: Diao Yi- nan, Zhang Yibai, Xu Zheng und Feng Xiaogang. Wie kamen Sie darauf, Filmemacher zu casten?

Ich habe sie eingeladen, Nebenrollen zu spielen bzw. als Cameo aufzutreten. Sie alle haben bereits schauspiele- rische Erfahrung. Wir machen ganz verschiedene Filme, aber dieser Film hat uns zusammengebracht, wir waren mit den gleichen filmischen Aspekten konfrontiert und haben uns gegenseitig mental unterstützt. Wie Brüder in der Jianghu. Filmemachen erschien mir schon immer als eine riskante Berufswahl. Der chinesische Titel des Films lautet JIANG HU ER NU – „Die Söhne und Töchter des Jianghu“ – und das beschreibt im Prinzip uns alle, die wir Filme machen.

Biografische Daten

Jia Zhang-Ke wurde 1970 in Fenyang, Shanxi, geboren. Er studierte zunächst Kunst, bevor er an die Beijing Film Academy wechselte. Sein Spielfilmdebüt XIAO WU hat Preise in Berlin, Vancouver und weiteren Festivals gewonnen. Seitdem haben seine Filme bei den wichtigsten europäischen Festivals ihre Weltpremieren gefeiert. STILL LIFE hat 2006 den Goldenen Löwen in Venedig gewonnen, A TOUCH OF SIN 2013 den Preis für das beste Drehbuch in Cannes, wo auch MOUNTAINS MAY DEPART 2015 im Wettbewerb lief. Viele seiner Filme bewegen sich auf der Schwelle zwischen Fiktion und Dokumentation. Er trat ebenfalls als Produzent von Filmen junger Filmemacher in Erscheinung und hatte kurze Cameo-Auftritte in Werken anderer Regisseure.

FILMOGRAFIE (Auswahl)

2018 ASCHE IST REINES WEISS
2015 MOUNTAINS MAY DEPART
2013 A TOUCH OF SIN
2007 USELESS (Dokumentarfilm)
2006 STILL LIFE
1998 XIAO WU (PICKPOCKET)

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