Interview mit Nicolas Philibert AUF DER ADAMANT (Frankreich 2022)


 

Wie kam es zu diesem Film?

                                Ich habe vor gut fünfzehn Jahren zum ersten Mal von der Adamant gehört, als es sich noch um ein Projekt handelte. Damals war die klinische Psychologin und Psychoanalytikerin Linda de Zitter, der ich seit den Dreharbeiten zu NICHTS ALS KLEINIGKEITEN in der psychiatrischen Klinik La Borde im Jahr 1995 sehr nahe stehe, in das aufregende Abenteuer der Entstehung der Adamant involviert: Monatelang trafen sich Patient*innen und Betreuer*innen mit einem Architektenteam, um die wichtigsten Elemente zu definieren. Und was als utopischer Traum begann, wurde schließlich Wirklichkeit.

                                Jahre später, vor etwa sieben oder acht Jahren, hatte ich zum ersten Mal die Gelegenheit, die Adamant zu besuchen. Der Rhizome-Workshop lud mich ein, über meine Arbeit zu sprechen. Rhizome ist ein Gesprächskreis, der jeden Freitag in der Bibliothek stattfindet. Von Zeit zu Zeit, fünf oder sechs Mal im Jahr, wird ein Gast eingeladen: ein Musiker, eine Romanautorin, eine Philosophin, ein Ausstellungskurator… An diesem Tag verbrachte ich zwei Stunden vor einer Gruppe, die sich auf meinen Besuch vorbereitet hatte, indem sie sich einige meiner Filme ansah und mich immer wieder aus meiner Komfortzone zwang. Seit meinen Anfängen als Filmemacher habe ich viele Gelegenheiten gehabt, vor Publikum zu sprechen, aber dieses Mal hat es mich besonders beflügelt, angespornt durch die Bemerkungen der Anwesenden.

                                Der Wunsch, einen weiteren Film in der Welt der Psychiatrie zu drehen, um zu sehen, „wer ich sonst noch bin“, wie Linda de Zitter es ausdrücken würde, hatte mich schon lange begleitet. Dieser Tag auf der Adamant hat mich in diesem Wunsch bestärkt. Einige Patient*innen und Betreuer*innen hatten sicherlich sehr hohe Erwartungen! Ich musste jedoch einige Jahre warten, bis ich mit dem Film beginnen konnte, da ich mich damals auf ein anderes Projekt konzentrieren musste.

Warum wollten sie Jahre nach den Dreharbeiten in der Klinik la borde einen weiteren Film in der Welt der Psychiatrie drehen?

                                Ich habe die Psychiatrie immer sehr aufmerksam verfolgt und mich sehr dafür interessiert. Es ist eine Welt, die sowohl beunruhigend als auch, wenn ich wagen darf, das so zu sagen, sehr anregend ist, da sie uns ständig dazu zwingt, über uns selbst, unsere Grenzen, unsere Fehler und die Art und Weise, wie die Welt funktioniert, nachzudenken. Die Psychiatrie ist eine Lupe, ein vergrößernder Spiegel, der viel über unsere Menschlichkeit aussagt. Für einen Filmemacher ist sie ein unerschöpfliches Feld.

                                Darüber hinaus hat sich die Situation der öffentlichen Psychiatrie in den letzten fünfundzwanzig Jahren erheblich verschlechtert: Budgetkürzungen, Schließung von Betten, Personalmangel, Demotivierung der Teams, baufällige Räumlichkeiten, mit Verwaltungsaufgaben überforderte Pfleger*innen, die oft auf die Rolle von Wärter*innen reduziert werden, die Rückkehr zu Isolationszimmern und Zwangsmaßnahmen. Dieser Niedergang war zweifellos eine zusätzliche Motivation.

                                Es hat nie ein goldenes Zeitalter gegeben, aber von allen Seiten hört man, dass die Psychiatrie am Ende ihrer Kräfte ist und von den Behörden völlig im Stich gelassen wird. Es ist, als ob wir die „Verrückten“ nicht mehr sehen wollten. Über sie wird nur noch durch das Prisma ihrer Gefährlichkeit gesprochen, die zumeist herbeiphantasiert wird. Die sicherheitsorientierte Rhetorik eines großen Teils der politischen Klasse und einer bestimmten Presse, die einige isolierte Vorfälle schamlos ausschlachten, hat damit offensichtlich zu tun. In diesem Kontext erscheint ein Ort wie die Adamant wie ein kleines Wunder, und man muss sich fragen, wie lange er noch bestehen wird.

Was sie über den Niedergang der Psychiatrie sagen, ist in dem Film nicht zu erkennen. bedeutet das, dass die Adamant von den Verwüstungen, die den Bereich getroffen haben, verschont geblieben ist? warum haben sie dann einen Ort gewählt, der nicht repräsentativ für die Situation ist, die sie beschreiben? besteht nicht die Gefahr, dass sie ein sehr einseitiges Bild der Psychiatrie zeichnen? mit welcher Herangehensweise haben sie die Dreharbeiten begonnen?

                                Die Adamant hat es geschafft, ein lebendiger und attraktiver Ort zu bleiben, sowohl für die Patient*innen als auch für das Personal, weil sie sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruht. Sie ist ein Ort, der in ständigem Kontakt mit der Außenwelt steht, offen für alles, was geschieht, und der alle Arten von Mitwirkenden willkommen heißt. Unsere Filmaufnahmen sind ein erhellendes Beispiel dafür.

                                Darüber hinaus ist es ein Ort, der sich bemüht, an sich selbst zu arbeiten, ganz im Sinne der „institutionellen Psychotherapie“, jener Denkströmung mit dem etwas barbarischen Namen, die vor[1]schreibt, dass die Institution, um sich um die Menschen zu kümmern – und die Sehnsucht am Leben zu erhalten -, gepflegt werden muss, dass sie unerbittlich gegen alles kämpfen muss, was sie bedroht: Wiederholung, Hierarchie, übermäßige Vertikalität, Rückzug, Trägheit, Bürokratie… Und der Ort selbst ist sehr schön, was viel ausmacht: die Räume, die Materialien, die Lage, die Nähe zum Wasser, während ähnliche Einrichtungen zwar nicht immer düster und kalt sind, sich aber meist damit begnügen, funktional zu sein.

Warum haben sie dann einen Ort gewählt, der nicht repräsentativ für die Situation ist, die sie beschreiben? Besteht nicht die Gefahr, dass sie ein sehr einseitiges Bild der Psychiatrie zeichnen?

                                Welche Psychiatrie? Es gibt keine „eine“ Form der Psychiatrie, sie ist plural, vielfältig und muss immer wieder neu betrachtet werden. Ich wollte eine menschliche Psychiatrie zeigen, die immer noch Widerstand leistet und die stark bedroht ist. Sie wehrt sich gegen alles, was anderswo in der Gesellschaft zerstört wird, und versucht, zu bleiben. Dies ist nicht ein Film, der explizit Dinge anprangert. Indem er die entgegengesetzte Richtung einschlägt, tut er dies aber implizit. Wie der Regisseur und Filmkritiker Jean-Louis Comolli kurz vor seinem Tod schrieb, „besteht die wahre politische Dimension des Kinos darin, dafür zu sorgen, dass die Würde der Menschen von anderen anerkannt wird, zwischen der Leinwand und dem Publikum“.

                                Die Adamant ist ein untypischer Ort, aber er ist nicht der einzige. Und das Adamant-Team ist auch nicht das einzige Team, das beim Umgang mit den Herausforderungen Fantasie zeigt, wir dürfen das nicht glorifizieren. Die Suche nach einem beispielhaften Ort ist nicht mein Hauptanliegen. Als ich NICHTS ALS KLEINIGKEITEN drehte, war die Klinik La Borde auch nicht repräsentativ für die Psychiatrie ihrer Zeit, und ist es auch heute nicht. Das sind Orte, die experimentieren. Sie gehen Risiken ein. Wir müssen uns von Klischees lösen, um dem Publikum zu zeigen, dass Zurückhaltung keine Lösung ist, und das Bild von psychisch Kranken, das so entwürdigend ist, ändern. Die Grundlage ist die menschliche Beziehung. Sie ist alles, was aufgebaut wird, alles, was versucht wird, mit verschiedenen Mitteln, ohne eines auszuschließen, damit die Begegnung stattfinden kann. Es gibt kein Rezept, keinen Zauberstab. Die „menschliche“ Psychiatrie – ein Pleonasmus? – ist eine Psychiatrie, die sich abmüht, die maßgeschneiderte Lösungen findet. Sie betrachtet die Patient*innen als Subjekte, erkennt ihre Einzigartigkeit an, ohne sie um jeden Preis domestizieren zu wollen.

Mit welcher Herangehensweise haben sie die Dreharbeiten begonnen?

                                NICHTS ALS KLEINIGKEITEN hat mir sehr geholfen. Der Film hat mich weit gebracht und mir ermöglicht, mich von einer Reihe von Vorurteilen zu befreien. Damals zögerte ich sehr, einen Film über die Psychiatrie zu machen: Wie könnte ich Menschen filmen, die durch ihr Leiden am Boden liegen, ohne sie auszubeuten, ohne die Macht zu missbrauchen, die die Kamera unweigerlich demjenigen verleiht, der sie hält? Menschen, bei denen der Anblick einer Kamera oder eines Mikrofons ein Gefühl der Verfolgung verstärken oder ein Delirium hervorrufen kann? Wie kann man vermeiden, das Leiden zum Spektakel zu machen, nicht in Folklore und Selbstgefälligkeit zu verfallen? Aber sobald ich dort war, haben die Begegnungen alles verändert. Die Antworten kamen von den Patient*innen selbst. Sie ermutigten mich, mich meinen Skrupeln und Zweifeln zu stellen, und halfen mir, sie zu überwinden. Einige sagten: „Haben Sie Angst, uns auszubeuten? Was denken Sie? Wir mögen verrückt sein, aber wir sind nicht dumm!“

                                Heute, im Zeitalter der sozialen Netzwerke, wo wir ermutigt werden, alles zu sagen und zu zeigen, sind diese Fragen nicht weniger relevant. Filme müssen ihre Geheimnisse bewahren, nicht alle Fragen beantworten. Es ist mir wichtig, dieser Aufforderung zu widerstehen, diesem Ruf danach, „alles sichtbar“ zu machen, der in unserer Welt überhandnimmt.

Siehe auch: AUF DER ADAMANTEin Film von Nicolas Philibert (Frankreich) Doku über Tageseinrichtung mit Vorbildfunktion am Ufer der Seine in Paris auf einem Holzschiff – Gewinner Goldener Bär Berlinale 2023

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