Rupert Henning im Gespräch mit Michaela Mottinger WIE ICH LERNTE, BEI MIR SELBST KIND ZU SEIN (2019)


Geboren 1967 in Klagenfurt, lebt Rupert Henning als freier Schriftsteller, Schauspieler, Theater- und Filmregisseur in Österreich. Studium und Theaterausbildung in Wien, seither Engagements und Inszenierungen an verschiedenen Bühnen. Mehrfach preisgekrönte Arbeiten als Dramatiker und Drehbuchautor für europäische Kino- und TV-Filmproduktionen. Über 25 Spielfilmdrehbücher für europäische Kino- und TV-Produktionen sowie zahlreiche TV-Serien. Zusammenarbeit mit Künstlern wie André Heller, Herman van Veen, Manfred Deix, Gerhard Haderer und Mnozil Brass. Mit seinem langjährigen Co-Autor bei Film- und Theaterprojekten Uli Brée schrieb Rupert Hennung u.a. die Drehbücher der Spielfilme GELIEBTE GEGNER (1998), DIE EHRE DER STRIZZIS (1999) und ZWEI UNTER EINEM DACH (2000) von Peter Weck, ZWEI FRAUEN, EIN MANN UND EIN BABY (1999, Österreichischer TV-Preis Romy: Bestes Drehbuch), die vielfach ausgezeichneten BRÜDER – AM JAKOBSWEG (2005) und DER SCHWARZE LÖWE (2007) sowie BAUERNOPFER (2009) und ALLES SCHWINDEL (2012) von Wolfgang Murnberger und DER TÄTER (2008) in der Regie von Michael Kreihsl. Zu seinen weiteren Filmen als Autor und Co-Autor zählen NORDWAND (2007, Regie: Philipp Stölzl), DÄMMERUNG ÜBER BURMA (2014, Regie: Sabine Derflinger) und Wolfgang Murnbergers KEBAB MIT ALLES (2010), KLEINE GROSSE STIMME (2014) und ACHTERBAHN (2016).

Interview mit Rupert Henning

Sie haben sich sehr lange mit diesem Projekt befasst, beinahe zehn Jahre. Worin lag die Faszination in André Hellers Erzählung?

Das Buch kam 2008 heraus, und ich habe es bald danach gelesen. Aber für ein Filmprojekt braucht man immer einen langen Atem; so ein Film ist sozusagen ein nur langsam zu manövrierender Hochseetanker – noch dazu, wenn das Projekt für österreichische Verhältnisse ein so großes ist. Was heißt: Wir haben es majoritär österreichisch finanziert. Der Text von André Heller hat zwar einen klaren regionalen Bezug, ist aber gleichzeitig universell verständlich – und extrem ungewöhnlich. Ein Stoff , wie ich finde, der von der Machart her nicht alltäglich ist. Man findet im Rückblick auf die vergangenen dreißig Jahre österreichischer Literaturgeschichte nicht viele Bücher wie dieses.

Machart bedeutet, dass das Buch gut zu verfilmen ist?

Ja, den Eindruck hatte ich sofort. Es hat einen klaren erzählerischen Kern – und mit dem Protagonisten Paul Silberstein eine Hauptfigur, die man sich merkt. Eine Figur, die auch unabhängig von André Heller funktioniert. Wenn man dessen Lebensgeschichte kennt, findet man natürlich Parallelen. Er selber schreibt ja in der Präambel, manche der geschilderten Begebenheiten hielt seine Kindheit für ihn bereit, aber die Oberhand beim Schreiben hatte die Fantasie. Darüber hinaus ist das Ganze überaus unterhaltsam, es ist wie etwa Torbergs „Tante Jolesch“ sehr kulinarisch. Aber wie Torberg schrieb, es ist ein Buch der Wehmut – und Wehmut kann lächeln, Trauer kann das nicht. Ebenso sehe ich das Heller-Buch.

Sie haben mit André Heller schon zwei Projekte gemacht. Wie hat er auf das Filmprojekt reagiert?

Er hat gesagt: „Macht‘s!“ Außerdem hat er Uli Brée und mir beim Schreiben des Drehbuchs völlig freie Hand gelassen. Es gab von ihm zuvor auch schon ein Näheverhältnis zu den Produzenten Danny Krausz und Kurt Stocker, mit denen er selber Filme realisiert hat.

Ihr Film hat etwas Kammerspielartiges. Würden Sie mir in dieser Beurteilung folgen?

Ja. Jedenfalls in gewisser Hinsicht. Der Film erzählt unter anderem von Enge. Die Geschichte von Paul ist zunächst eine Geschichte der Einengung. Ein Bub, der witzig und fantasiebegabt und weltoffen ist, lebt in einer Familie, die das absolut nicht teilt, sondern ihm ständig sagt, was er nicht tun soll. Das klingt nach schwerem Drama, nach „Zögling Törleß“. Meinem Co-Drehbuchautor Uli Brée und mir ging es aber vorrangig nicht darum, die Studie eines Knaben zu zeigen, der sich mit den Dämonen der eigenen Familie herumschlagen muss, sondern darum, eine Geschichte zu erzählen, die einen fesselt und packt und unterhält.

Der Film hat auch optisch eine ganz klare Dramaturgie …

… und zwar in der Art, wie die Farben erzählt werden. Bis zum Tod des Vaters ist alles ein wenig grau und düster – und dann geht halt die Sonne auf, wenn der Vater stirbt. Das klingt absurd, wenn man es so sagt, aber erst, als der dominante, sich selbst und die ganze Welt verachtende Patriarch nicht mehr ist, gehen plötzlich die Fenster auf und das Licht kann herein. „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“ ist ein Ermutigungsfilm, ein Befreiungsfilm.

Welch ein Glück, Valentin Hagg als Hauptdarsteller gefunden zu haben!

Absolut. Wir haben uns hunderte Buben angeschaut, und Valentin stand am Ende als Wunschbesetzung fest, weil er so speziell ist, an dieser Schwelle vom Kind zum Jugendlichen. Er hat nie zuvor in einem Film mitgespielt, und er ist dennoch einer der besten Schauspieler, mit denen ich je zu tun hatte.

Er spielt entfesselt. An die Sprache, daran, dass ein Kind sich so elaboriert ausdrückt, muss man sich allerdings gewöhnen.

Klar, alles an dieser Familie ist zunächst einmal eher ungewöhnlich, ist eine Maske – oder vielmehr eine Rüstung, eine Festung. Die Mutter stets perfekt, wie aus einem edlen Modekatalog, Bruder und Vater immer in maßgeschneiderten Anzügen, die Familienvilla wie ein Museum. Deshalb haben wir in der Hermesvilla gedreht, damit alles wie eine Inszenierung und unwirklich wirkt, solange Paul sich nicht befreien kann. Und so ist zunächst auch die Sprache – künstlich und unecht. Aber Paul findet am Ende seinen eigenen Ton, seine eigene Ausdrucksweise.

Diese Festung schießen Uli Brée und Sie mit Szenen skurrilen Humors ein. Etwa, wenn Gerti Drassl als Nonne einen Papierflieger fängt, der ein Liebesbrief ist, den sie auf sich bezieht.

Solche Auflockerungen sind von André Heller schon so angelegt. Manche Szenen sind wie ein Mini-Horváth. Ödön von Horváth, Joseph Roth oder Helmut Qualtinger, mit dem er ja auch gearbeitet hat, sind, wie ich glaube, Leuchttürme, an denen Heller sich unter anderem orientiert. Er sagt über sich selbst, er ist in Wahrheit kein Mensch, sondern ein Wesen, das menschliche Erfahrungen macht und auf dem Planeten Erde ein Gastspiel in der Rolle André Heller gibt. Ich finde, er ist gewissermaßen eine multiple Persönlichkeit. Er spaltet sich in verschiedene Stellvertreter auf, die allesamt André Heller heißen und die er losschickt, damit sie für ihn in der Welt Eindrücke sammeln. In „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“ gibt er einen sehr tiefen Einblick in die Seele eines Kindes, das wie ein Schwamm Erlebnisse aufsaugt. Und zwar nicht nur das reine Quellwasser, sondern halt auch das „Drecksgschloder“, das aus der eigenen Familiengeschichte rinnt. Heller entwirft das elfte Gebot, das da lautet: „Du sollst dich selbst ehren.“ Und das Motto seines Helden heißt: „Werde nicht wie alle, die du nicht sein willst!“

Eine starke Figur ist nicht nur Paul, sondern auch sein Vater Roman Silberstein. Karl Markovics spielt ihn zwischen tragischem Helden und Psychopathen.

Ich wollte schon sehr lange mit Karl Markovics arbeiten, und bei diesem Projekt war mir sofort klar, er gehört dazu. Karl hat zunächst gezögert – nicht, weil ihm die Rolle nicht interessant schien, sondern weil er erst einmal nicht auf den Gedanken gekommen ist, sie zu verkörpern. Es ist nun eine sehr eigenwillige Interpretation der Figur geworden; eine böse Figur, aber eben auch eine tragikomische – insofern, als dass Karl immer erspüren lässt, wie das Leben dieses Menschen auch hätte sein können. Roman Silberstein ist durch ihn nicht nur ein pathologischer Irrer, sondern er hat auch immer wieder Momente des Innehaltens. In der ersten Szene gleich, wenn er als Erklärung für die eigene Grausamkeit sagt: „Die Kriege machen das. Wenn du in ihnen bist, sind sie bald auch in dir. Und wenn sie außen endlich erlöschen, brennen’s in dir weiter.“ Karl zeigt, wie geistreich, wie schillernd diese Person hätte sein können, hätte ihr nicht der Krieg und sein Schicksal als Flüchtling allen Glanz geraubt.

Prägnant drückt das seine Verwandte Silbersteins aus, wenn sie sagt, er hätte es nicht geschafft, mit sich befreundet zu sein.

Das fällt ja auch vielen schwer – vor allem, wenn sie Traumatisches erlebt haben. Dazu eine Geschichte, an die ich oft denken muss: Ich habe einmal zwei Brüder kennengelernt, die beide in Auschwitz gewesen waren. Aus dem Älteren wurde nach der Befreiung 1945 ein lebensfroher, humorvoller, wenn auch nichts verdrängender Mensch. Der Jüngere blieb für den Rest seines Lebens ein schwarzes Loch der Traurigkeit. Ihre Erfahrungen waren nahezu identisch, aber als Menschen waren sie grundverschieden. Der ältere Bruder sagte mir irgendwann: „Ich kann es nicht erklären. Wir waren beide in Auschwitz. Aber in Wahrheit habe ich Auschwitz nie betreten. Und mein Bruder hat es nie verlassen.“ Menschen gehen unterschiedlich mit dem um, was man gemeinhin „Schicksal“ nennt. Umso wichtiger – und das erzählt der Film auch – ist es, dass jeder versucht, rauszufinden, was seine Wünsche sind, seine Bedürfnisse, seine Freiheiten. Der Film regt hoffentlich zu einem Selbstbewusstsein an, das kein polternder Ego-Trip ist, sondern eine Bewusstmachung der Dinge, die einen ausmachen.

Heißt also, nicht wie Mutter Silberstein zu sein, die sagt, sie hätte alle Möglichkeiten, aber keinen einzigen Wunsch.

Genau. Für mich war es sehr beglückend, Elisabeth Heller persönlich kennenzulernen. Ich hatte eine wunderbare Begegnung mit ihr in Hellers Garten in Gardone. Im Vergleich zur Figur im Film war sie viele Schritte im Leben weitergekommen; sie war wirklich, wie André Heller sagt, ein Jahrhundertmensch. Was hat dieses Leben nicht alles umspannt! Elisabeth Heller hat alles erlebt – vom goldenen Käfig, über den Bankrott und die darauffolgende Selbstrettung bis hin zu einer vielleicht daraus resultierenden gewissen Milde und Abgeklärtheit im Alter.

Was haben Sie durch solche Begegnungen gelernt?

Es geht uns so gut wie nie zuvor. Das ist der Grund, warum Entwicklungen durch Menschen wie Trump und Orbán so erschreckend sind. Demokratie ist nichts Selbstverständliches, man muss täglich darum ringen. Ich glaube nicht, dass morgen wieder braune Horden durch die Straßen ziehen, aber dass Freiheiten eingeschränkt werden, dass eine neue Angst die Leute leitet, das ist sehr wohl eine Tatsache. Und auch das behandelt dieser Film, weil er eigentlich sagt: „Lass dich nicht von falschen Sicherheiten kaufen!“ Das Denken, demzufolge man, solange man nichts macht, auch nichts falsch machen kann, ist verheerend. Der Paul Silberstein in uns sagt: „Sei nicht untätig! Überprüfe deine Träume!“ Der Heller würde das jetzt vermutlich so formulieren: „Überprüfe deine Träume in der Wirklichkeit auf ihre Statik – auch auf die Gefahr hin, dass ein paar von deinen Traumkartenhäusern in sich zusammenbrechen und du scheiterst.“ Aber wir lernen aus unserem Scheitern!

Apropos Traum: Die Schlusssequenz des Films ist, eine Flic-Flac-artige Szene, ein Zirkus. Warum?

Ganz einfach: Paul Silberstein verehrt ein Mädchen, das schwer krank ist. Er fragt sich: „Was ist zu tun?“ Und dann entscheidet er sich, dass er ihr Anwesenheit und Zeit schenken kann. Und seine Fantasie. Und so brennt er ein Feuerwerk aus felliniesken Attraktionen ab. Ob sie’s gesehen hat oder nicht – man weiß es nicht. Es ist ein Don-Quijote-Moment, dessen Entschlüsselung beim Publikum liegt. Noch eine Geschichte: Als mein Bruder klein war – er vielleicht vier, ich 14 Jahre alt – saßen wir oft zusammen in meinem Zimmer. Es war Herbst, tagelang herrschte dieser typische Klagenfurter Nebel, der einem bis in die Seele suppt. Es war ein trüber Tag, und mein kleiner Bruder merkte wohl, dass ich nicht gut drauf bin. Da hat er mit einer Schere aus einem gelben Blatt Buntpapier eine kleine runde Scheibe ausgeschnitten. Eine Sonne. Die hat er dann an mein Fenster geklebt. Für mich ist das genau das, was Menschen mitunter machen können: Eine Buntpapiersonne aufkleben, wenn der Nebel ins Gehirn suppt. Man kann das eskapistisch nennen. Was André Heller schon sein Leben lang macht, ist vielen möglicherweise zu schwül, zu eklektizistisch, zu … was auch immer. Ich glaube an die Wirkung solcher Buntpapiersonnen. Manchmal helfen sie, manchmal nicht. Heller ist neben einer polarisierenden, vielschichtigen Figur auch ein fortwährendes öffentliches Scheitern, aber oft auch ein Gelingen – und von solchen Figuren gibt’s nicht viele. Schon allein deshalb finde ich ihn toll.

Man darf die Realität nicht ausblenden, man muss aber auch die Fantasie leben?

Das ist das, was dieser Film unter anderem erzählen soll. Aber nicht als verzopfter Fantasie-Poesie-Quatsch, sondern in einer klaren, identifizierbaren Form.

Interview: Michaela Mottinger

Das vollständige Interview ist erschienen bei „Mottingers- Meinung.at – Die Online-Kulturzeitschrift“

2006 gab Rupert Henning sein Spielfilmdebüt als Regisseur mit FREUNDSCHAFT (2006, Co-Autor Florian Scheuba). Weitere Regiearbeiten waren die Tatort- Folgen GRENZFALL und SCHOCK (2015). Rupert Henning wurde für seine Arbeit vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Förderungspreis zur Josef Kainz- Medaille, dem Österreichische Kleinkunstpreis, dem Theaterpreis Nestroy, dem Kabarettpreis Salzburger Stier, dem Preis der deutschen Filmkritik, dem Österreichische Fernsehpreis der Erwachsenenbildung in der Sparte Film (2009 und 2011), mehrmals mit dem österreichischen TV-Preis Romy (dreimal in den Kategorien Bestes Drehbuch, je einmal in den Kategorien Bester Film und Beste Satire); weitere Auszeichnungen beim New York TV Festival, den Seoul International Drama Awards und bei den Filmfestivals in Shanghai, Monte Carlo, Baden-Baden und Montenegro.

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