Interview mit Regisseur Vít Klusák GEFANGEN IM NETZ (2020)


Der tschechische Regisseur Vít Klusák studierte Fotografie an einer auf grafische Kunst spezialisierten Schule. Er ist Absolvent der Dokumentarfilm-Abteilung an der FAMU (Film- und Fernsehfakultät der Akademie der Musischen Künste) in Prag und unterrichtete dort seit 2006. Vít Klusák und Regie-Kollege Filip Remunda gründeten 2003 die Produktionsfirma Hypermarket Film, die sich auf Dokumentationen konzentriert und aus Prinzip keine Werbung produziert. Die Doku-Komödie CESKÝ SEN – DER TSCHECHISCHE TRAUM (2004) von Vít Klusák und Filip Remunda gewann Preise auf vielen nationalen wie internationalen Festivals und wurde von 24 ausländischen Sendern ausgestrahlt. Ihr Dokumentarfilm CZECH PEACE (2010) über einen US-Radar in Tschechien feierte Weltpremiere auf Michael Moores Festival in Traverse City, USA. Vít Klusáks ALL FOR THE GOOD OF THE WORLD AND NOSOVICE (2011) gewann den Film Critics’ and Theoreticians’ Preis für den besten Dokumentarfilm bei den Czech Lion Awards in Prag. THE GOOD DRIVER SMETANA (2013) war ein sehr persönliches Projekt. Er fungierte sowohl als Regisseur, Produzent als auch Editor. Zu den laufenden Projekten gehören etliche Dokumentarfilme für das Tschechische Fernsehen in der Reihe The Czech Journal (z.B. „Tabloid Workers“, 2014); einige Episoden der legendären Show „Yes, Boss!“, die Dokumentation „Matrix AB“ (2015), ein Porträt des Oligarchen Andrej Babiš; THE WHITE WORLD ACCORDING TO DALIBOR (2017), die stilisierte Darstellung eines Kleinstadt-Neonazis, und das tschechisch-polnische Roadmovie ONCE UPON A TIME IN POLAND (2020, mit Filip Remunda). Vít Klusák hat vier Kinder und lebt in Prag.

Wie haben Sie die drei Akteurinnen ausgesucht, die die 12-jährigen Mädchen spielen sollten?

Wir suchten vor allem Darstellerinnen, die authentisch und nicht schauspielernd wirkten. Das ist tatsächlich auch der Grund, warum nur eine tatsächliche Schauspielerin dabei ist: Tereza Těžká vom DAMU, der Theaterfakultät der Akademie der Musischen Künste in Prag. Sabina Dlouhá und Anežka Pithartová standen erstmals vor der Kamera. Ich freue mich sehr, dass Zuschauer*innen und Journalist*innen uns berichteten, dass alle drei völlig natürlich in ihrer Darstellung präpubertierender Kinder wirkten. Ein essentielles Kriterium des Castings war, dass man ihnen abnahm, dass sie 12, 13 Jahre alt waren. So reichte es, mit ihnen in ein Café zu gehen und zu versuchen, ihnen einen Wein zu bestellen. Und es war sofort klar, dass sie diese Rahmenbedingung erfüllten.

Die Kinderzimmer und die Kleidung unterstützten ebenfalls den Eindruck, dass die Darstellerinnen 12-jährige Mädchen waren. Worauf haben Sie sonst noch Ihr Augenmerk gelegt?

Wir haben damit gespielt. Während ihrer Recherche hat die Visagistin Barbora Potužníková entdeckt, dass die Durchblutung in Gesichtern von Mädchen in der Vorpubertät anders ist als bei älteren Mädchen. Deshalb simulierte sie das beim Make Up. Außerdem achteten wir auch auf IT-Details: Obwohl sich alle Schauspielerinnen an einem Ort in der Nähe Prags befanden, zeigten ihre Computer die Städte an, die wir in ihren Fake-Profilen angaben, so dass sie in den Absendern sichtbar waren. Außerdem legten wir die Profile hauptsächlich auf der Basis von Fotos an, als die Mädchen wirklich 12 Jahre alt waren. Aber wir achteten auch auf das Wetter. Der Kameramann Adam Kruliš bestimmte das Tageslicht nach den behaupteten Adressen: Wenn es in Pilsen wolkig war, dann schalteten sie vor den Fenstern unserer „12-jährigen Niky Komárková“ das Licht aus.

Wie haben sich die Dastellerinnen auf ihre Rollen als 12-jährige Mädchen vorbereitet?

Es half, dass wir ihnen Hausaufgaben stellten. Wir sorgten dafür, dass sie vor dem Dreh Kinder in diesem Alter trafen und so viele Beobachtungen wie möglich in Bezug auf Sprache und Verhaltensweisen machten. Um sicher zu stellen, dass sie nichts ausdachten, schrieben sie ihre Beobachtungen in Aufsätzen nieder. Tereza kontaktierte ihren jüngeren Cousin und erstellte eine Messenger-Gruppe mit seinen Klassenkameraden. Dank ihnen konnte Tereza die Abkürzungen, GIFs und Emojis sehen, die sie benutzen. Wir achteten auch auf Typos und Rechtschreibfehler. So setzen Kids keinen Abstand nach einem Komma und achten überhaupt nur wenig auf Interpunktion.

Der Film war schon Monate vor seinem Kinostart im Gespräch. Weil das Thema großes Sensations-Potential hat?

Da haben Sie wohl Recht. Er hat definitiv heftige Aufmerksamkeit erregt. Aber ich denke, gleichzeitig haben wir es geschafft, die Tücken, das Thema Kindesmissbrauch im Internet in schockierender, emotional erpresserischer Weise zu behandeln, ziemlich gut zu umgehen. Meine Kollegin Barbora und ich führten viele Diskussionen im Schneideraum und haben jede Szene so feingeschliffen, dass wir keine Grenze überschritten. Auch, weil wir einen gewissen Humor nicht scheuten.

Das Publikum lachte ziemlich viel bei Vorpremieren. Grenzt das nicht an Zynismus, schließlich geht es doch um Kindesmissbrauch?

Nach den Vorpremieren überall im Land haben wir Feedback aus dem Publikum bekommen: Humor sei in so einem Film zwar überraschend, aber willkommen. Einige Zuschauer*innen, insbesondere Mädchen, fürchteten, der Film würde ihnen den Magen umdrehen und sie würden ihn nicht bis zum Ende gucken können. Aber glücklicherweise hat sich das nicht bestätigt. Täter sind oft lächerlich, wenn sie Mädchen verfolgen, und manchmal grenzt es fast an Parodie. Es gibt Momente, in denen das Publikum erleichtert lacht. Das funktioniert wie ein emotionales Befreiungsventil und hilft dabei, dass man den Film bis zum Ende sieht und sogar die harten Passagen verkraftet.

Der Film endet mit dem Hinweis, dass „die tschechische Polizei das Filmmaterial benutzt, um strafrechtliche Verfolgungen einzuleiten“. Wie sah die Zusammenarbeit mit der Polizei konkret aus?

Es ist gut, sich bewusst zu machen, dass das Projekt aus einem Experiment mit vielen Unbekannten heraus entstanden ist. Am Anfang hatten wir keine Ahnung, welche Art von Verhaltensweisen wir drehen würden, wie weit es gehen würde. Als wir einen Entwurf schrieben, sagten wir, unser Ziel sei es nicht, diese Männer zu kriminalisieren. Wir wollten zuerst und vor allem die Techniken der Manipulation zeigen, die sie bei Kindern anwendeten, und damit eine große gesellschaftliche Diskussion entfachen. Aber dann wurden wir mit Erpressungen und Drohungen konfrontiert. Einige der Männer schickten unseren Schauspielerinnen Pornos mit Kindern und mit Tieren, und es war klar, dass wir das nicht für uns behalten durften. Die Polizisten, auf deren Schreibtischen das Material landete, verhielten sich mit äußerster Professionalität dazu. Sie meinten zu uns, dass unser Film das Potential habe, ein machtvolles Instrument der Prävention zu werden, und dass sie dies begrüßen würden.

Was soll Ihr Film verändern?

Ich würde gerne eine Diskussion innerhalb der Gesellschaft in Gang setzen, die zu positiven Ideen führt, wie wir Kinder im Internet schützen können, nicht nur vor Missbrauchenden, sondern auch vor sich selbst. Wir dürfen nicht vergessen, dass Kids oft auf halbem Weg gefährlichen Situationen entgegengehen. Ich hoffe auch, dass der Film nicht den Durst nach Rache oder Verboten schürt, wie das oft bei Themen geschieht, wo man in etwas Düsteres hineinsticht. Wenn Unheil entsteht, ist Repression nahe. Aber es sollte mehr Energie für die Prävention aufgewandt werden. Abgesehen davon müssen Kindern bessere Beschäftigungen angeboten werden, als am Tablet zu sitzen. Wir müssen bei uns selbst anfangen. Ich schiele dauernd auf mein Handy und schreibe nahezu am Lenkrad noch Mails. Und ich weiß, dass das schlecht ist. Für mich und für meine Kinder – ich möchte nicht, dass sie sich so an mich erinnern.  

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