Retrospektive Paula Modersohn-Becker Schirn Kunsthalle Frankfurt, vom 8. Oktober 2021 bis 6. Februar 2022


Wandfassade mit Ausstellungsplakat

Ausstellungen haben die Aufgabe neue Perspektiven auf einen Künstler zu werfen, die bisher verborgen geblieben sind und das künstlerische Werk in einen neuen Kontext zur Gegenwart setzen. Dies dürfte bei Paula Modersohn-Becker nicht schwer fallen, so vielfältig und modern ist ihr Oeuvre geblieben auch für die Menschen heutzutage. Besonders angetan haben es mir ihre Kinderbilder. Sie hat so viele davon gemalt, wodurch der Eindruck entsteht, sie habe einen besonderen Fabel dafür gehabt. Doch was erzählt die Ausstellung neues über die Künstlerin und weshalb waren Schirn und Kuratorin dazu entschlossen, eine Retrospektive in Frankfurt zu eröffnen?

Ein besonderer Wert im Schaffen bei Paula Modersohn-Becker (1876 – 1907) liegt auf der Darstellung des Menschen und seinem Bildnis. Häufig kommen Selbstporträts der Künstlerin vor, die eines ihrer wichtigsten künstlerischen Experimentierfelder sind und den Anfang der Ausstellung in der Schirn bilden. Viele der Bilder sind kleinformatig, so dass viel Raum im Ausstellungssaal der Schirn übrig bleibt. Der Hintergrund der Ausstellungswände liefert dann ein monotones, dunkles Blaugrün oder an anderer Stelle ein mattes Kaffeebraun, was die psychische Komponente bei vielen der Bilder verstärkt. Die Motive bei Paula Modersohn-Becker haben eine starke innere Ausprägung bewahrt und das bis auf den heutigen Tag. Sicherlich ist ihr auch eine starke feminine Haltung zu Gute zu halten, die um die Jahrhundertwende um 1900 noch nicht üblich war, sondern erst aufzukeimen begann und vor allem das 20. und das 21. Jahrhundert prägen. Die Abstände zwischen den meisten Exponaten ist weit voneinander entfernt gehalten, so als wäre auch hier die Abstandsregel eingehalten worden.

Zwei Selbstportraits

Die Auswahl an Bildern malerischer und stilistischer Werkgruppen, die ihre gesamte Entwicklung spiegeln, dienten ihr auch als fortwährender Akt der künstlerischen Selbstvergewisserung. Das dürfte bei vielen Künstlern ähnlich gelagert sein. Bereits in dem frühen Selbstbildnis um 1898 wird ihre zentrale malerische Methode sichtbar: die Nahsicht. Das Bildfeld wird komplett ausgefüllt, indem das Gesicht der Künstlerin nah herangerückt ist. Während ihres zweiten Aufenthalts in Paris 1903 fand Paula Modersohn-Becker dann in der Frontalität eine Form der Verallgemeinerung, die in der Verbindung von direkter Nähe und zeitlosen Elementen ihren künstlerischen Bestrebungen entsprach und die sie u.a. in Selbstbildnis mit weißer Perlenkette (1906), Selbstbildnis mit rotem Blütenkranz und Kette (1906/07) oder Selbstbildnis mit Zitrone (1906/07) aufgriff.

Kinder mit Laternen vor Haus

Auch die pastose Malweise der in der Technik der Enkaustik angefertigten und mit dem Spachtel aufgetragenen antiken Vorbilder prägte das Schaffen der Künstlerin. Ab 1898 und vermehrt ab 1902 bevorzugte sie eine besonders matte Tempera, deren Oberfläche sie in einigen Fällen mit dem Pinselstiel bearbeitete. Mehr als die Hälfte ihrer Selbstporträts entstand 1906/07, als sie sich von Otto Modersohn getrennt in Paris aufhielt und ihren Weg als Künstlerin suchte. Sieben davon zeigen die Malerin halb oder ganz entkleidet. Eine Sonderrolle nimmt das Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag (1906) ein, der erste bekannte Selbstakt einer Künstlerin, was zum Zeitpunkt der Entstehung nicht ausstellungswürdig war. Das komplexe Werk der Künstlerin liefert zahlreiche Anspielungen auf kunsthistorische Vorläufer und deutet diese zu einer um 1900 äußerst gewagten Selbstdarstellung um. Nackt und mit angedeuteter Schwangerschaft stellt sich Paula Modersohn-Becker selbstbewusst und feminin dar.

Viele Figurenbilder von ihr haben eine unverwechselbare Mischung aus Nähe und Distanz, aus Naturalismus und Symbolhaftigkeit, mit der diese auf die Ebene des über die Zeit hinaus reichenden und Allgemeingültigen gehoben werden. Diese Darstellungsweise charakterisiert auch ihre einzigartigen Kinderbildnisse sowie ihre Mutter-Kind-Bilder. Mit insgesamt über 400 Arbeiten von meist bäuerlichen Kindern bilden diese innerhalb ihres Oeuvres die größte Gruppe. Die Auswahl an Kindermotiven in der Schirn verdeutlicht, mit welch großer Intensität sich die Künstlerin diesem im späten 19. Jahrhundert besonders beim bürgerlichen Publikum beliebten Sujet widmete. Man denke nur an die Kinderbilder von Philipp Otto Runge, die ein Aufbegehren des Bürgertums zum Inhalt haben, was mit der damit verbundenen freiheitlichen Kindererziehung einhergeht. Die Auswahl der Exponate in der Schirn lassen keine Zweifel an der Authentizität der Künstlerin aufkommen.

Die Fokussierung auf die nur kleinformatigen Motive halte ich für zu begrenzt bei der Betrachtung. Andererseits ist die Schlichtheit gewollt. Denn ihr Schlichtsein überzeugt. Mein Bedürfnis jedoch wäre, diese kleinen Bilder stärker im Kontext zur Wirklichkeit und zu ihrer Heimat in Worpswede verstehen zu lernen, wo viele der Bilder ihren Ursprung haben. Dieser Aspekt wurde meiner Meinung nicht genug beachtet in Frankfurt. Zu dieser Landschaft gehört das Moor ebenso wie vereinzelte Bäume am Wegesrand. Dazu zählt das Dorf und seine Bewohner, die Gemeinschaft, die Bauern auf dem Feld und die Früchte die geerntet werden. Die Wallungen auf den Gesichtern in den Bildern, die von der täglichen Arbeit der Menschen berichten und ein tiefes mentales Zeugnis von der Individualität der Personen ablegen, so wie sie Paula Modersohn-Becker gemalt hat. Davon erfährt der Betrachter nur etwas beim näher Herantreten und beim Studieren der kleinen Bilder. Andererseits, wer hätte geahnt, dass diese Bilder jemals einen so großen Rahmen finden werden, wie sie die Räume der Frankfurter Schirn bieten. Diese Gemälde wirken vielmehr so, als wären sie für kleinere Behausungen gemalt, in der Stube hängend oder in einer kleinen Galerie versammelt.

Manche der Formate sind größer. Damit sind besonders lebensgroße Akte gemeint, gezeichnet oder gemalt, deren Qualität durchaus einen akademischen Hintergrund bei Paula Modersohn-Becker vermuten ließen, den sie jedoch nicht ohne weiteres hatte, den sie erst auf den Reisen nach Paris oder vorher bei ihrem Mann dem Maler Otto Modersohn erfuhr. In Paris nahm sie regelmäßig Unterricht im Aktzeichnen an den für Frauen zugänglichen Akademien von Colarossi und Julian. Somit zähle ich die Reisen nach Paris zu einer der Hauptleistungen, die sie vollbracht hat, fort aus der Heimat zu gehen, um zu neuen Ufern aufzubrechen. Das hat viel Schweißblut gekostet und vielleicht auch ihr das Leben, geplagt von inneren Zweifeln zu sein und dann doch wieder Mut zu schöpfen, von neuem den inneren Plan in Angriff zu nehmen, um zu malen. Paula – Mein Leben soll ein Fest sein, ist ein biografisches Filmdrama aus dem Jahr 2016 von Christian Schwochow über die früh verstorbene Malerin Paula Modersohn-Becker, der sich besonders den Pariser Jahren der Künstlerin widmet und deren Lebensverhältnisse dort.

Kind an der Mutterbrust und Mädchenkopf

Während der Presskonferenz am 7. Oktober in der Frankfurter Schirn erhob die Kuratorin Dr. Ingrid Pfeiffer den Vergleich der Bilder von Paul Modersohn-Becker mit jenen von Mark Rothko, der ausschließlich abstrakt in seiner Malerei ist und in Schichtungen Farbe aufträgt, was von einer unglaublichen Selbstruhe getragen ist gepaart mit der aurabehafteten Wärmeausstrahlung seiner Bilder, obwohl diese in den buntesten Farben kreiert wurden. Wärme und Farbigkeit finden sich auch bei Paula Modersohn-Becker. In den Gesichtern der Menschen pulsiert die Hitze, die ihnen durch die tägliche Arbeit bis in den Kopf gestiegen ist. Von Infrarotaufnahmen zu sprechen wäre viel zu technisch gedacht und würde das Werk falsch interpretieren. Die Intensität wie sie das kleinformatige Portraitbild von Rainer Maria Rilke ausstrahlt, ist nahezu unbeschreiblich, aber gerade dieses Bild habe im Zusammenhang mit dem Dichterfreund eine hohe Popularität erreicht. Demnach gilt, hier weiter zu suchen, was dieses Werk auszeichnet, das durch seine Schlichtheit glänzt, aber absolut nicht naiv oder primitiv aufgefasst ist.

Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog im Hirmer Verlag und zusätzlich ein Begleitheft für den pädagogischen Gebrauch erschienen. Der Katalog mit Beiträgen von P. Demandt, S. Ewald, A. Havemann, I. Herold, I. Pfeiffer, K. Schick, R. Stamm und W. Werner, 220 Seiten, 180 Abbildungen in Farbe, 24 x 29 cm, gebunden, ISBN: 978-3-7774-3722-4 

 Foto (c) Kulturexpress

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