Interview mit Regisseurin Nathalie David HARALD NAEGELI - DER SPRAYER VON ZÜRICH (2021)


Wie sind Sie an “Harald Naegeli Der Sprayer von Zürich” herangegangen? Wie unterscheidet sich diese Herangehensweise von Film zu Film?

Die Herangehensweise von Film zu Film ist immer die Gleiche. Ich lese alles was es zu lesen gibt und stelle Verbindungen her. Ich bevorzuge autobiographische Elemente und schaue mir die Arbeit meiner Protagonist*innen genau an. Dabei begleiten mich die Fragen “Was wollen sie sagen, was ist ihre Intention, was ist daran wichtig für die Kunst, für das Leben?” Die Ästhetik des Films ändert sich jedes Mal, sie dialogisiert mit ihrem Sujet, ihren Künstler*innen. Sie nähert sich der Ästhetik des Objekts, der Kunst, dem Sujet an Das Konzept ist das, was mich interessiert. Die Ästhetik entwickelt sich daraus automatisch. Ich bin als Filmerin und Künstlerin immer wieder mit einer neuen Ästhetik konfrontiert und das ist das Schöne dabei, weil es Fenster öffnet, um weiter zu denken. Ich möchte meinem Sujet gerecht werden, meinen Respekt zeigen. Es muss Vertrauen zwischen der*dem Protagonist*in und mir, der Filmerin aufgebaut werden. Ich wollte intime Einblicke geben aber es darf nichts Privates erzählt werden. Kein Scoop. Das interessiert mich nicht.

Der Film erzählt uns zu Beginn, dass Naegeli an keinem Filmprojekt mehr teilnehmen möchte und sich dann doch zu einem Interview bereiterklärt nach einem Brief von Ihnen an ihn, von Künstlerin zu Künstler. Aus diesem Gespräch ist “Harald Naegeli Der Sprayer von Zürich” entstanden.

Regieportrait Nathalie David

Nach seiner Absage nahm Naegeli meine E-Mail Adresse in seinen Verteiler auf. Ich bekam darüber sehr starke Texte und Bilder. Eines Tages schrieb er, dass er nicht schlafen könne, weil er solche Schmerzen im Bauch hatte und so erschuf er in dieser Nacht Zeichnungen aus der Apokalyptischen Serie.

Sonntag, 27. Januar 2019 um 16:05
Betreff: Endloser Tanz ins Leben und in den Tod

Liebe Freundinnen und Freunde,

heute von 02 .00 früh bis 07.00 Uhr rüttelte der Tod mächtig an meinem Gedärm und Knochen. In Erinnerung an seine Knochenmusik habe ich ihm eine schöne Hommage gezeichnet. Natürlich ist diese Hommage eine List wenn nicht eine unschuldige Bestechung des Künstlers!

Und da hat er eingewilligt. Wie war Ihre weitere Zusammenarbeit mit Naegeli?

In seinem Atelier in Düsseldorf besuchte ich ihn immer allein, von März bis Mai 2019, jeweils für drei Tage. Und wirklich nur um für ein paar Stunden zu drehen.

Zuerst haben wir uns gegenseitig gezeichnet. Das ist zum Ritual geworden. Wir konnten Vertrauen aufbauen. Weil ich mich in der Kunstgeschichte auskenne, haben wir sehr viel über andere Künstler*innen gesprochen, damit hat der Film schon begonnen… Ich hatte immer sehr konkrete Fragen, das hat ihm gefallen. Irgendwann war dann klar: Wir machen einen Film zusammen.

Er ließ mich allein in seinem Atelier und ich hatte Zeit als Filmerin, alle Details in seinem Atelier, später in seiner Wohnung in Zürich, aufzunehmen, um die Kunst nachzuempfinden. Naegeli ist ein sehr lustiger und großzügiger Mensch. Er trägt eine Leichtigkeit in sich und ist sehr zugänglich, wenn er es möchte. Das sollte der Film transportieren. Gleichzeitig war es mir wichtig die Momente drin zu haben, in denen er nicht mehr gefilmt werden möchte, müde ist, Tee macht oder Schokolade isst, in denen er richtig sauer wird und uns rausschmeißt aber immer mit Eleganz!

Die Nähe zwischen ihm als Protagonisten und mir als Filmerin in dem Film sollte erklärt werden, ich musste Präsenz zeigen, wollte aber nicht direkt Teil des Films sein. Und weil er immer zeichnet, wenn Menschen ihm begegnen, bin ich jetzt üb er seine Zeichnung von mir in dem Film zu sehen.

“Der Totentanz” im Zürcher Großmünster wurde auf Eis gelegt

Was war die Herausforderung an diesem Film?

Mit  jemandem zu arbeiten, der  bald sterben wird. Naegeli ist ein lebender Künstler, aber er ist schon 81,  mit  fortgeschrittenem Krebs, was  für mich als Mensch und  als Filmerin natürlich nicht einfach ist. Man ist immer mit  dem Tod  konfrontiert. Als ich  ihn zum  ersten Mal  traf,  da dachte er, er hätte noch drei  Monate zu leben. Das  gab  mir  den  Druck, so schnell zu filmen wie möglich und  doch sensibel mit  dem Protagonisten zu sein.  Wir wussten, wir hatten nicht viel Zeit. Die Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein hat  uns  schnell eine  Förderung gegeben für die Materialsicherung. Das  war  toll.

Außerdem war  es eine  Herausforderung alles  zusammenzubringen: Naegeli ist nicht nur  ein Sprayer, wie viele  denken, er ist vor  allem ein Künstler, der  auf Papier genauso wie auf der Wand arbeitet. Es gibt  die abstrakte Utopie, die sogenannten «Urwolken», die Graffitis, die Zeichnungen und  dazwischen die apokalyptischen Bilder. Ich  wollte ihn als Künstler zeigen. In den  Unterhaltungen habe ich  versucht, Stränge zusammenzubringen, so kam  auch die Verbindung zwischen den  Partikeln der  Sprayfarbe und  der  Urwolke auf.  So eine  Aussage ist ein Geschenk für den  Film,  das  ich  an die Zuschauer*innen weitergeben kann und  dann können sie weiter überlegen.

Was fasziniert Sie persönlich an Naegelis Arbeit und wieviel davon beeinflusst den Film?

Die verschiedenen Stränge seiner Kunst, die trotzdem verbunden sind, gefallen mir.  Nur durch die tausend Zeichnungen kann er so perfekt den  Strich auf den  “Träger” (Wand) bringen.

Naegeli ist emanzipiert. Das  finde ich  beeindruckend. Der  politische Aspekt in seiner Arbeit fasziniert mich. Er ist ein Rebell, genau wie seine Mutter, vor  der  er wahnsinnig großen Respekt hat.  Ich  führe das  im Film weiter. Ich  rebelliere in der  Sprache des  Films. Die Typografie, der  direkte Schnitt, das  Voice-over… Es macht mich richtig nachdenklich und wütend, dass ein Mensch für seine Kunst ins Hochsicherheitsgefängnis gekommen ist und das  in der  Schweiz – das  möchte ich  subtil an die Zuschauer*innen weitergeben.

Naegeli sagt: “Ohne Widerstand, ohne Opposition, wäre die Kunst belanglos. Es wäre einfach nur eine affirmative Konsumangelegenheit und keine geistige Auseinandersetzung mit dem Leben.” Ist Ihr Film politisch?

Dem stimme ich  zu. Naegelis Kunst war  1979 avantgardistisch, sie fällt aus  ihrer Zeit. Abgesehen vom  Kunstmilieu hat  niemand verstanden, was  die Strichfiguren sein  sollten.

«Sachbeschädigung», es ist immer dasselbe Wort. Heute ist seine Kunst noch umstritten, aber sie wird mehr und  mehr anerkannt. 40  Jahre Widerstand – und  es geht immer noch weiter. Der  Film nährt sich  vom  Konzept des  Künstlers. Er wird politisch durch die Naegeli- Statements. Der  Film ist ein Rebell in sich. Es wird Leute geben, die den  Film nicht verstehen. Aber es wird Leute geben, die das  rebellische Sein  sehen werden. Wir leben grade in einer Umbruchszeit. Da ist die Kunst das  beste Mittel. Wie Naegeli es im Film über Covid-19 sagt:

“Mein Totentanz läutet die globale Katastrophe, die erst  noch kommt, ein.  Die Übel, die wir kennen, sind  nennbar. Die noch kommen, unbekannt. Es gilt den  Barbaren, der  immer wieder aufsteht, in Schranken zu halten! Die Kunst ist dabei das  beste Mittel!”

“Harald Naegeli – Der Sprayer von Zürich” zeichnet ein sensibles Portrait des rebellischen Künstlers. Was wünschen Sie sich für den Film?

Ich  wünsche mir,  dass Naegeli als Künstler gesehen wird, dass man  ihn wahrnimmt, dass die Zuschauer*innen sensibilisiert werden und  ein Verständnis entwickeln. Wenn sie aus  dem Film rausgehen und  sagen “Ich mag immer noch nicht, was  er macht, aber ich  verstehe, wo er hinwill” – dann haben wir etwas gewonnen. Der  Film soll anregen, zur Diskussion und  zum Denken. Es geht darum, die verschiedenen Gattungen in seiner Kunst als Gesamtkunstwerk wahrzunehmen.

Ich  wünsche mir,  dass der  Film inspiriert, dass Graffiti die Stadt neu  belebt, dass die Stadt Graffiti neu belebt.

Der Film balanciert zwischen Leichtigkeit und Schwere – wie war die Arbeit an der Montage? Wie viel hattest du vorher gescripted und wie viel ist während des Schnittes entstanden?

Ich  habe versucht, verschiedene Elemente zusammen zu montieren – ohne zu fälschen – damit die Menschen über Naegeli als Mensch und  als Künstler nachdenken können. Die E-Mails gaben mir  Struktur. Sie sollten unbedingt gesprochen werden und  als Leitfaden durch den Film  führen. Das  wusste ich  von  vornherein. Deshalb habe ich  Naegeli kurz  nach unserer ersten Begegnung vorlesen lassen. Es sollte eine  Erzählerinnen-Stimme sein,  die keine Konkurrenz zu Naegelis Stimme ist und  die Harry Wolkes E-Mails vorliest und  damit einen roten Faden spinnt. Ich wollte mit  Schrift und  Stimme zusammenarbeiten. Schrift ist politisch. Schrift ist Demonstration. Vor  allem dann, wenn sie die ganze Fläche des  Films  (Kadrierung) übernimmt. Diese Doppelung durch Schrift und  Stimme gibt  dem Film einen Rhythmus.

Der  Totentanz im Großmünster war  der  Leitfaden bis – während des  Lockdowns – unerwartet seine Reihe  von  Totentänzen in der  ganzen Stadt auftauchten. Das  war  natürlich ein Geschenk für die Dramaturgie! So musste es zum  Thema im Film werden. Der  Tod, aber auch der  Widerstand zum  Tod, die Bedrohung der  Tode durch die Pandemie. Wie reagieren die Stadt Zürich und  der  Kanton Zürich? Wie reagieren Institutionen wie das  Kunsthaus oder die ETH auf Naegelis Werke? Für mich als Nicht-Schweizerin, also  aus  der  Distanz, war  das sehr  interessant zu beobachten.

Ich  montiere meine Filme  immer selbst, dafür mache ich  während des  Prozesses sehr  viele Zeichnungen und  Schemata, viele  kleine Zettel im Raum, die ich  hin-  und  herschiebe und  neu sortiere, viele  To-do- und  Done-Listen. All das  hilft mir.  So weiß ich,  was  mir  noch fehlt  und kann konkret danach fragen. Ich  habe in der  Montage zwischen der  Auseinandersetzung mit dem Staatsapparat und  dem Tod  sowie dem Lachen balanciert. Denn Naegeli hat  Humor:“Keep smiling, wenn alles  kaputt geht.”

Können Sie etwas über die Zusammenarbeit mit dem Team sagen, wie sind Sie zusammengekommen, wie arbeiten Sie zusammen?

Peter Spoerri hatte 1979 die Idee  zu diesem Film.  Er hat  über Jahre Material gesammelt, das ist sehr  besonders. Ich  finde es wichtig, Film als Medium und  Material selbst zu reflektieren und die Zuschauer*innen in den  Prozess mit  hineinzunehmen. So wurde auch die Spoerri-Zeichnung Teil des  Films. Er ließ  mir  sehr  viele  Freiheiten bei der  Arbeit. Dafür bin ich  sehr dankbar. Auch ein Utopist!

Mir  war  es sehr  wichtig, mit  vielen Frauen im Team zu arbeiten. Mieke Ulfig ist selbst Künstlerin und  sie ist sehr  polyvalent in ihrer Art, das  Medium als Grafik und  Animation zu denken. Wir haben die Regel der  Typographie subtil gebrochen. Wir haben uns  gegen eine parteipolitische Farbe für die Schrift entschieden und  für eine  Farbe, die an das  Grün von  den ersten Blättern nach dem Winter erinnert. Eine Farbe der  Renaissance. Eine  Farbe der Exklamation!

Weil der  Film so viel Texttafeln hat,  haben wir uns  später entschieden, drei  Sprachversionen zu machen. Deutsch, Französisch, English. Andrina Bollinger macht die Deutsche Off- Stimme. Anna-Katharina Müller auf Englisch und  Perle Palombe auf Französisch. Nur  die Interviews werden mit Untertiteln geführt.

Für die Musik wollte ich  unbedingt eine  Frau, das  ist immer noch selten und  wir konnten gleich zwei  gewinnen, Andrina Bollinger und  Sophie Hunger, beide Forscherinnen in der  Musik und beide Schweizerinnen aus  Zürich, beide herzlich gute Rebellinnen, die auch schon als Jugendliche von  den  Naegelistreitereien mitbekommen hatten.

Bei Andrina wusste ich  sofort, dass sie zu Naegelis Arbeit passt. Sie benutzt ihre  Stimme als Instrument. Das  bringt eine  Verbindung zur zeitgenössischen Musik, die Naegeli studiert hat, und  bezieht sich  in der  Abstraktion auf die Urwolke und  auf die rebellische Art  von  “Harald Naegeli – Der  Sprayer von  Zürich”. Ich  habe mich dann auch für ihre  Off-Stimme entschieden.

Sophie hat  eine  unglaubliche Stimme, die uns  unter die Haut geht, und  sie besitzt ein Kontingent an verschiedenen Genres. Sie kann so schön Schweizerdeutsch singen, auch wenn es für Nicht-Schweizer*innen nicht selbstverständlich zu hören ist. Sie hat  die Ballade am Ende  des  Films  geschrieben.

Und  dann kam  Covid-19. Unser Kameramann in Zürich, Adrian Staehli, konnte während des Lockdowns alle Totentänze aufnehmen. Naegeli war  so aktiv in den  Straßen wie schon lange nicht mehr und  ich  bekam Mails, wo die neuen Figuren zu finden waren. Ich  bin dankbar, wir haben alles  gedreht, was  wir drehen wollten.

Im ersten Frühlingslockdown konnte ich  mich komplett auf den  Schnitt konzentrieren. Eigentlich war  das  ideal. Bei der  Postproduktion wird es natürlich viel komplizierter, aber alle haben mitgedacht. Für die Off-Stimme haben Julian Joseph und  Kurt Human im Studio aufgenommen und  ich  via Skype die Regie gemacht. Es ging alles  nur  etwas mühsam. Nur  für die Mischung und  das  Colorgrading muss man  dort sein.

Dieser Film war  nicht leicht mit  seinen Themen und  den  Arbeitsbedingungen unter Covid-19. Aber es hat  uns  allen  große Freude gemacht. Ich  habe mit  einem herzlichen Postproduktions-Team gearbeitet. Ich  habe gemerkt, dass sich  viele  Zürcher Künstler*innen aus  den  verschiedensten Genres mit  der  Figur Naegeli identifizieren. Der  Film hat  uns  allen unsere Utopie erfrischt, glaube ich.  Meine auf jeden Fall.

Ein Interview von Aisha Mia Lethen Bird

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