Jedes zweite Frühgeborene erhält aufgrund einer Anämie Transfusionen von roten Blutkörperchen (Erythrozyten). Dabei gibt es keine allgemein akzeptierten klinischen Richtlinien, ab welchem Grad der Blutarmut transfundiert werden soll bzw. muss. Forscher:innen der MedUni Wien haben nun die derzeitige Datenlage kritisch überprüft. Ihr Review wurde jetzt im renommierten Fachjournal „The Lancet Haematology“ publiziert und versteht sich als Anstoß zur Erforschung und Entwicklung von Verbesserungen in der neonatalen Intensivmedizin.
Das Problem, das die Wissenschafter:innen ihrer Übersichtsarbeit zugrunde legten, ist nicht die fehlende Zahl an Studien zu Erythrozytentransfusionen bei Frühgeborenen, sondern die spärliche wissenschaftliche Evidenz. So weist das Team um Angelika Berger und Vito Giordano von der Klinischen Abteilung für Neonatologie, Pädiatrische Intensivmedizin und Neuropädiatrie der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der MedUni Wien in seinem Review auf mehrere Punkte hin, die die Vergleichbarkeit zwischen den Studien herabsetzen und folglich die Integration der Ergebnisse in klinische Guidelines nahezu unmöglich machen.
Weiters kann bis jetzt nicht zuverlässig festgestellt werden, ob die Verabreichungen von Erythrozytentransfusionen mit Komplikationen der Frühgeborenen wie Erkrankungen des Darms (nekrotisierende Enterokolitis), der Netzhaut (Frühgeborenenretinopathie) bzw. der Lunge (bronchopulmonale Dysplasie) oder mit entwicklungsneurologischen Beeinträchtigungen zusammenhängen. Aus der insgesamt unklaren Datenlage schließen die Studienautor:innen auf ein enormes Verbesserungspotenzial in der neonatalen Intensivmedizin: „Unsere Übersichtsarbeit versteht sich als Anstoß zur Erforschung und Entwicklung von Verbesserungen der therapeutischen Möglichkeiten bei Frühgeborenen“, fasst Studienleiterin Angelika Berger die Relevanz der Arbeit zusammen. Eine Option wäre zukünftig möglicherweise die Verabreichung von fetalen Erythrozyten, welche aus Nabelschnurblut gewonnen werden könnten. Derzeit werden den Frühgeborenen rote Blutkörperchen von erwachsenen Spendern transfundiert, die sich erheblich von denen der Babys unterscheiden und folglich als physiologisch unangemessen angesehen werden können. Diesbezüglich sind weiterführende Studien an der MedUniWien geplant.
15 Millionen Frühgeborene pro Jahr
Daten aus der Statistik unterstreichen die Wichtigkeit, die Versorgung von Frühgeborenen zu optimieren: In Österreich liegt die Frühgeburtenrate bei sieben Prozent, weltweit kommen laut WHO jährlich rund 15 Millionen Frühgeborene auf die Welt. Aufgrund der physiologischen, hämodynamischen und respiratorischen Unreife ist Frühgeburt einbpotenziell lebensbedrohlicher Zustand, der Komplikationen in mehreren Organsystemen mit sich bringen kann. Von Anämie z. B. ist jedes zweite Frühgeborene betroffen. Obwohl die Fortschritte in der neonatalen Intensivmedizin in der jüngsten Vergangenheit die Sterblichkeitsrate erheblich gesenkt haben, ist Frühgeburtlichkeit immer noch eine der häufigsten Todesursachen bei Kindern unter fünf Jahren.
Publikation: The Lancet Haematology
Packed red blood cell transfusion in preterm infants
Luise Bellach, Michael Eigenschink, Abtin Hassanein, Danylo Savran, Ulrich Salzer, Ernst W. Müllner, Andreas Repa, Katrin Klebermass-Schrehof, Lukas Wisgrill, Vito Giordano, Angelika Berger
DOI: 10.1016/S2352-3026(22)00207-1
https://doi.org/10.1016/S2352-3026(22)00207-1
Die Forschungsarbeit entstand im Rahmen des Senior Mentoring-Programmes an der Klinischen Abteilung für Neonatologie, Pädiatrische Intensivmedizin und Neuropädiatrie der MedUni Wien (Leitung Angelika Berger) in Kooperation mit den Max Perutz Labs Vienna und dem Comprehensive Center for Pediatrics der MedUni Wien. Die Mentees Luise Bellach, Michael Eigenschink, Daniel Savran und Abtin Hassanein wurden von Vito Giordano betreut.