Regiekommentar Saskia Diesing DER VERLORENE ZUG (2021)


Saskia Diesing, geboren 1972, zog im Alter von acht Jahren in die Niederlande, nachdem sie bis dahin in Deutschland gelebt hatte. Nach ihrem Abschluss als Filmemacherin an der Hochschule der Künste Utrecht (HKU) im Jahr 1996 arbeitete sie sieben Jahre lang beim niederländischen Fernsehsender VPRO als Regisseurin und Chefredakteurin für mehrere Fernsehprogramme. Im Jahr 2003 führte sie Regie bei „DU“, einem zweisprachigen TV-Roadmovie, der für das Internationale Filmfestival Rotterdam, das Input Festival und den Prix Europa ausgewählt wurde. Danach führte sie Regie und schrieb die Drehbücher mehrerer Kurzfilme und Fernsehfilme.

Ihr erster Kino-Spielfilm „Nena“ (in Koproduktion mit COIN FILM) kam im September 2014 in die Kinos und gewann das Goldene Kalb in der Kategorie Beste Schauspielerin und Beste Regie auf dem Niederländischen Filmfestival 2015. Der Film wurde für mehrere internationale Filmfestivals und das Programm Generation 14+ auf der Berlinale 2015 ausgewählt, wo der Film einen Special Mention Jury Award gewann. „Nena“ wurde in viele Länder verkauft und auf Festivals in aller Welt gezeigt. Ihr zweiter Spielfilm „Craving“ feierte 2018 auf dem IFFR Premiere und wurde für das Internationale Filmfestival Shanghai ausgewählt.

Nach „Der verlorene Zug“ arbeitet sie aktuell an einem Spielfilm über die #MeToo-Bewegung, der den Titel „The Hearing“ trägt. Saskia Diesing ist außerdem seit 2004 Dozentin für Drehbuch und Regie an der HKU Media, School of the Arts Utrecht, sowie Drehbuch- und Regie-Coach für viele Filmemacher*innen.

Regiekommentar

„Der verlorene Zug“ ist ein Kriegsdrama, das aus der Perspektive dreier Frauen erzählt wird. Es ist ein Film über den Krieg, der noch nicht ganz vorbei ist. Ein Film, der uns die menschliche Anstrengung und die Widerstandsfähigkeit zeigt, die es braucht, um Ressentiments, Wut und Misstrauen zu überwinden und um die eigene Menschlichkeit wiederherzustellen. Neun von zehn Filmen über den Zweiten Weltkrieg werden von Männern erdacht, geschrieben, inszeniert und produziert. In der Regel stellen sie auch Männer dar, vorzugsweise als Helden, gelegentlich als Opfer und jüngst auch zunehmend als Täter.

In diesem Film geht es aber um Frauen. Er wurde von einer Frau erdacht und geschrieben und wird auch zu einem großen Teil von Frauen produziert. Wird das einen Unterschied machen? Vielleicht nicht. Vielleicht ist das Geschlecht irrelevant, wenn es um Krieg geht, oder um das Filmemachen im Allgemeinen. Aber vielleicht wird es das eben doch. Denn Frauen erleben den Krieg auf andere Weise und haben daher vielleicht andere Dinge über den Krieg zu erzählen. Über Mitgefühl zum Beispiel. Mitgefühl beginnt damit, dass man das Leben aus der Sicht eines anderen Menschen versteht. Es ist nicht etwas, das einfach so entsteht. Mitleid vielleicht, aber Mitgefühl oder Empathie ist nicht dasselbe wie Mitleid. Mitgefühl ist eine Perspektive, eine Lebenseinstellung, und, vielleicht am wichtigsten: Mitgefühl ist eine Entscheidung.

Doch warum sollte man mehr von den Leiden des Krieges sehen? Diese Frage stelle ich mir jedes Mal, wenn ich von wahren Begebenheiten lese: „Wie konnte das nur passieren?“ Zum Beispiel, wenn ich die historischen Fotos und Filme von der Befreiung von Bergen-Belsen betrachte, von der öffentlichen Hinrichtung von Partisanenmädchen in Weißrussland, die kaum mehr als Kinder waren; oder wenn ich deutschen Frauen zuhöre, die während der Schlacht um Berlin tagelang von der Roten Armee vergewaltigt wurden.

In diesen von Polarisierung, Misstrauen und Unsicherheit geprägten Zeiten verspürte ich mehr denn je das Bedürfnis, diese Geschichte zu erzählen. Denn aktuell sind wir erneut mit einem verheerenden Krieg in Europa konfrontiert. Und ich glaube, dass wir uns dringend daran erinnern müssen, dass Krieg, egal aus welcher Perspektive man ihn betrachtet, unweigerlich die Würde des Menschen zerstört.

Mein Onkel Eddy Marcus (1944-2011) war damals kaum ein Jahr alt, als er den verlorenen Transport zusammen mit seinen Eltern und zwei Brüdern überlebte. Erst bei seiner Beerdigung erfuhr ich erstmals diese Geschichte. Ich fühle eine große Verantwortung gegenüber den Vorkommnissen und mir ist bewusst, dass ein Film niemals der Verzweiflung, der Krankheit und dem Tod derjenigen gerecht werden kann, die damals dazu gezwungen waren, das mitzuerleben. Aus diesem Grund ist es wichtig zu betonen, dass der Film zwar von den Ereignissen rund um den verlorenen Zug inspiriert ist, die Geschichte und die Charaktere aber völlig fiktiv sind. Der Schwerpunkt liegt weniger auf der Gewalt, dem Elend und den Gräueltaten als vielmehr auf der Entschlossenheit, der Hingabe und dem Mitgefühl der drei Frauen.

Meiner Ansicht nach spielten die Frauen nach der Befreiung eine entscheidende, aber grundlegend andere Rolle als die Männer. Millionen von Frauen hatten ihre Ehemänner und Söhne verloren. Viele von ihnen, auch ihre Töchter, waren vergewaltigt und gedemütigt worden. Aber sie taten das, was Frauen seit Jahrhunderten tun: Die Scherben aufsammeln und weitermachen.

Wenn unsere Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs, der ein so wesentlicher und schmerzhafter Teil unserer europäischen Geschichte ist, auch von der weiblichen Perspektive geprägt wird, bietet uns dies in meinen Augen die Möglichkeit, zu alternativen Erzählweisen und Einsichten zu gelangen, die ebenso wertvoll sind.

In diesem Sinne kann dieser Film als eine Hommage an all die Frauen gedeutet werden, die nach dem Krieg ihre Putzlappen und Besen in die Hand nahmen, um in aller Stille die Trümmer und das Blut wegzukehren, während die Männer damit anfingen, die Geschichtsbücher zu schreiben.

Szenenfoto mit Winnie (Anna Bachmann)

Produktionskommentar

Hanneke Niens und Hans de Wolf über “Der verlorene Zug”

Das erste Mal haben wir mit der niederländischen Filmemacherin Saskia Diesing bei ihrem Debütfilm „Nena“ zusammengearbeitet, einer Koproduktion mit COIN FILM, die ihr den Special Mention Jury Award auf der Berlinale 2015 einbrachte. Ihr zweiter Spielfilm „Craving“, der 2018 auf dem Internationalen Filmfestival Rotterdam seine Premiere feierte, wurde ebenfalls von KeyFilm produziert. Mit „Der verlorene Zug“ gehen wir gemeinsam einen weiteren Schritt und haben einen internationalen Film für ein internationales Publikum kreiert.

„Der verlorene Zug“ ist ein historischer Film, der auf wahren Begebenheiten beruht. Er handelt von einem Zug mit Tausenden von jüdischen Häftlingen, der im Frühjahr 1945 von Bergen-Belsen quer durch Deutschland fährt und in der Nähe des Dorfes Tröbitz strandet. Die Lokomotive wird abgekoppelt, die deutschen Soldaten fliehen und die Gefangenen werden zurückgelassen. Es stellt sich heraus, dass der Krieg (fast) zu Ende ist. Aus dem Osten dringen russische Soldat*innen der Roten Armee vor und besetzen Tröbitz. Die Russ*innen zwingen die deutsche Bevölkerung, den KZ-Überlebenden aus dem Zug Unterkunft, Verpflegung und Hilfe anzubieten. Gemeinsam mit den Frauen und Mädchen (die Männer und Jungen kämpfen noch an der Front) organisieren sie ein Feldlazarett, um diejenigen zu versorgen, die durch die unmenschlichen Bedingungen des KZ-Lebens an Typhus erkrankt sind.

Ehemalige Erzfeind*innen müssen sich in dem winzigen deutschen Dorf miteinander arrangieren. Auch die drei jungen Frauen, um die sich die Handlung kreist, stehen sich zunächst feindselig gegenüber: die jüdisch-niederländische Frau Simone (29), die deutsche Jugendliche Winnie (17) und die russische Scharfschützin Vera (21). Im weiteren Verlauf kommen sich diese Frauen allmählich näher, beginnen zusammenzuarbeiten und sich umeinander zu kümmern. Drei Frauen, die nach den Verwüstungen des Krieges dank der gegenseitigen Unterstützung einen ersten Schritt in eine Zukunft machen, in der Mitgefühl die Rache, die Wut und das Misstrauen überwindet.

Es handelt sich um kein gewöhnliches Kriegsdrama, sondern um eine besondere Perspektive auf eine Ausnahmesituation, die die Widerstandsfähigkeit dreier junger Frauen Frauen auf die Zerreißprobe stellt. Dreier sehr unterschiedlicher Frauen, die langsam beginnen, die Menschlichkeit in den jeweils anderen zu erkennen.

In den meisten Kriegsfilmen stehen die Männer im Mittelpunkt. Das Besondere und Einzigartige an „Der verlorene Zug“ ist die genuin weibliche Perspektive: Im Mittelpunkt stehen drei junge Frauen. Darüber hinaus sind sowohl die Autorin/Regisseurin als auch mehrere der Produzent*innen Frauen. Das wird einen bis dato unbekannten Blick auf die damaligen Ereignisse gewährleisten.

Wir haben uns sehr darüber gefreut, die Dreharbeiten mit einer großen internationalen Besetzung und Crew, neuen und bewährten Talenten, sowie einer erneuten Zusammenarbeit mit den Produzent*innen von Amou Fou Luxemburg und COIN FILM zu meistern!

 

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