
Einst reichste Stadt Deutschlands, dann Jahrzehntelang nicht wirklich in Erscheinung getreten und vielen nur als „ehemals Karl-Marx-Stadt“ im Kopf – macht Chemnitz sich jetzt auf den Weg, im Jahr 2025 Deutschland als „Europäische Kulturhauptstadt“ zu vertreten. Wie es so weit kommen konnte und womit Chemnitz das verdient hat? Die Antworten lauten: Erfindergeist, Mut und harte Arbeit.
Vielleicht begann alles im Jahr 1357, als Chemnitz das sogenannte Bleichprivileg erhielt. Sämtliche Textilien des Umkreises durften nur in Chemnitz gebleicht werden und machten die Stadt zum Handels- und Umschlagschwerpunkt der Region. Die Affinität zu Textilien und ihrer Produktion sollte bleiben und führte dazu, dass bereits im 17. Jahrhundert mehr als ein Drittel der Beschäftigten in Chemnitz in der Textilbranche tätig waren. 1799/1800 folgte durch die Gebrüder Bernhard die erste mechanische Baumwollspinnerei im heutigen Stadtteil Harthau. Chemnitz mauserte sich zur industriellen Hochburg und war bald darauf Großstadt und Anfang des 20. Jahrhunderts reichste Stadt Deutschlands. Unternehmergeist, gepaart mit Chemnitzer Machermentalität, führte zu innovativen Erfindungen und modernen Errungenschaften. Der sächsische Lokomotiv-König Richard Hartmann war hier ebenso Zuhause wie der Webstuhl-Imperialist Louis Ferdinand Schönherr.
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Früh leisteten sich die Industriellen prächtige Häuser und traten als Mäzene auf. Kunst und Kultur hatte einen hohen Stellenwert in der Stadtgesellschaft und wer über ausreichend finanzielle Mittel verfügte, beschäftigte junge europäische Architekten wie etwa Henry van de Velde. Die erhaltene und mittlerweile sanierte Villa Esche des Strumpffabrikanten Herbert Eugen Esche zeugt noch heute davon. Auch das König Albert Museum, das Stammhaus der Kunstsammlungen Chemnitz am Theaterplatz ist ein Zeugnis dieser Zeit und der Investition in zeitlose Ästhetik. Es folgten prächtige Sakralbauten und ein ganzes Viertel im Jugendstil. Vom Krieg weitestgehend verschont geblieben, ist ein Spaziergang über den Kaßberg heute Pflicht bei einem Besuch der Stadt.

Nach dem zweiten Weltkrieg musste Chemnitz sich neu erfinden. Ein Großteil der Innenstadt wurde kurz vor Kriegsende fast vollständig zerstört. Im Jahr 1953 kam ein Namenswechsel hinzu, die Stadt hieß von da an bis 1990 „Karl-Marx-Stadt“. In diesem Zusammenhang folgte nicht nur die Einweihung der großen, bekannten Skulptur des Philosophen-Kopfes im Stadtzentrum, sondern auch ein umfangreiches Stadtentwicklungsprogramm. Die Innenstadt bot Raum für neue Pläne und Gebäude – einige sind noch heute noch im mittlerweile auch geschätzten Stil der Ostmoderne sichtbar. Es zogen mehr Menschen in die Stadt, der Wohnraum wurde knapp und am Rande entstanden Wohnsiedlungen wie etwa das Fritz-Heckert-Gebiet. Im Schatten von Leipzig und Dresden entstand in Chemnitz im Verlauf der Jahre eine ganz eigene Kultur. Eine Kultur, geprägt vom Machertum. In einer alten Filmaufnahme heißt es, in Karl-Marx-Stadt „bauen Arbeiter sich ihre eigene Stadt“. Man war gut, man konnte es – aber man machte kein großes Aufsehen darum. Nach der politischen Wende 1990 verließen etliche Bewohner ihre Stadt und diese wurde erneut mit Themen konfrontiert, die kein Durchatmen zuließen. Die Neugestaltung der Innenstadt, die Brachenrevitalisierung und der Umgang mit Leerstand waren drängende Punkte, die ins Blickfeld rückten. Doch auch dies meisterte die Stadt durch engagierte Menschen; die Technische Universität wuchs, Firmen gründeten sich hier und mittlerweile steht „Made in Chemnitz“ international als Siegel für Qualität und innovative Lösungen. Seit Oktober 2020 ist auch klar: Chemnitz hat das Potential, noch mehr daraus zu machen und auch auf der kulturellen europäischen Landkarte aufzutauchen. Die internationale Jury empfahl die Stadt als Europäische Kulturhauptstadt 2025, was Anfang Januar 2021 auch einstimmig durch die Kultusministerkonferenz bestätigt wurde.

Im Kulturhauptstadtjahr 2025 werden Projekte gemäß dem Motto „C the Unseen“ unentdeckte Orte erlebbar und das Unsichtbare sichtbar machen. Die europäischen Macherinnen und Macher sollen im Fokus stehen und ausgehend von der Geschichte den Faden in die Zukunft spinnen. Insgesamt 72 Projekte versammeln sich im sogenannten „Bid Book“, also der Bewerbung, die Chemnitz zum Titel „Europäische Kulturhauptstadt 2025“ verholfen hat. Die gute Nachricht dazu: bis zum Jahr 2025 müssen Besucher nicht warten, um das bislang Unentdeckte in Chemnitz und der Region zu erkunden. Einige Projekte sind bereits gestartet, andere werden in den kommenden Jahren erste Schatten voraus werfen.
Orte für neue Netzwerke und kulturelle Events werden entstehen – beispielweise durch das Kunstprojekt „We Parapom“. In diesem Kontext soll eine europäische Parade der Apfelbäume quer durch das Chemnitzer Stadtgebiet gepflanzt werden. Die Paten der 4.000 Apfelbäume werden dann zu Gastgebern für Events und laden zum gemeinsamen Machen und zum Austausch ein. Festivals werden perspektivisch eine europäische Ebene erreichen – dann wird aus einem KOSMOS Chemnitz ein KOSMOS Europe. Das Festival für Demokratie bietet mitten in der Stadt eine Plattform des Austauschs und der Begegnung. Und natürlich spielt auch die Sportkultur eine große Rolle im Kulturhauptstadtjahr – und auf dem Weg dorthin. Die Europäische Friedensfahrt etwa fuhren schon in den Jahren 2021 und 2022 auf den ersten Etappen jeweils rund 90 Amateurradler von Chemnitz nach Europa und zurück. Weitere Etappen folgen – im Jahr 2023 soll es von Görlitz über Mladá Boleslav und Plzeň nach Chemnitz gehen.


Der PURPLE PATH – ebenfalls ein Projekt der europäischen Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 – entwickelt sich aktuell zu einer verbindenden Marke in der Kulturregion. Ein Kunstparcours wird sich 2025 durch die gesamte Kulturregion ziehen und Kunst im öffentlichen Raum hervorheben und neu entstehen lassen. Erste Werke sind bereits aufgestellt worden: In Thalheim/Erzgebirge, Ehrenfriedersdorf, Flöha und Aue-Bad Schlema locken Skulpturen an ungewöhnliche Orte. Kirchgemeinden der Stadt und der Region sind dabei ebenfalls involviert – bei den Altarverhüllungen zur Passionszeit werden einige Altare künstlerisch verhüllt.
Auch Festivals wie die Fête de la Musique oder die Leselust und die Museumsnacht vernetzen Stadt und Umland schon jetzt bis ins Jahr 2025 und sicher auch darüber hinaus. Ein Abstecher in die Chemnitzer Kulturregion lohnt sich schon vor dem Programmjahr: Mit dem Chemnitzer Modell kommen Abenteuerfreudige ganz bequem zu beeindruckenden Kathedrahlen (zum Beispiel in Annaberg-Buchholz) oder geschichtsträchtigen Orten (etwa in Limbach-Oberfrohna). Radsportbegeisterte können auf dem Chemnitztalradweg die Umgebung erkunden und egal, wohin es Besucher verschlägt, es lohnt sich immer, den Menschen vor Ort zu begegnen.
Kunst- und Kulturinteressierte kommen nach wie vor in den etablierten Museen und Einrichtungen der Stadt auf ihre Kosten. Mit legendären Ausstellungen zu Edvard Munch, Pablo Picasso und Andy Warhol haben sich die Kunstsammlungen Chemnitz deutschlandweit einen Namen gemacht. Ein weiteres Highlight der Stadt, das Staatliche Museum für Archäologie Chemnitz, im einst von Erich Mendelsohn erschaffenen Kaufhaus Schocken, widmet sich auf 3.000 Quadratmetern rund 300.000 Jahren Kulturgeschichte.
Im kulturellen Herzen der Stadt laufen die fünf Sparten der Theater Chemnitz zusammen: Oper, Philharmonie, Schauspiel, Ballett und Figurentheater. In jeder Spielzeit aufs Neue gelingen kraftvolle Inszenierungen, spektakuläre Bühnenbilder und internationale Kooperationen. Schon im Eröffnungsprogramm von 1909 spielte das Ensemble des Chemnitzer Opernhauses Werke von Richard Wagner. Damit begann eine Tradition, die regelmäßig Wagner-Liebhaber aus ganz Deutschland ins „Sächsische Bayreuth“ pilgern lässt. Das Schauspiel ist aktuell gemeinsam mit dem Figurentheater im Spinnbau in Altchemnitz untergebracht, da das Schauspielhaus saniert wird. Das sollte jedoch niemanden von einem Besuch abhalten, denn das Provisorium überzeugt mit industriellem Charme und großer Authentizität.

Chemnitz zählt – wie schon erwähnt – zu den industriellen Wiegen Deutschlands. Dieser Geschichte, aber auch Gegenwart und Zukunft widmet sich das Industriemuseum Chemnitz an der Zwickauer Straße. Ein in Europa einmaliges technisches Denkmal bietet der Schauplatz Eisenbahn auf 26 Hektar mit dem Sächsischen Eisenbahnmuseum Chemnitz Hilbersdorf. Das Freilichtmuseum präsentiert in zwei Rundheizhäusern einen beeindruckenden Fahrzeugbestand aus Dampf-, Diesel- und Elektrolokomotiven sowie die Seilablaufanlage zur Zerlegung und Neubildung von Güterzügen.
Neben den großen Kulturinstitutionen hat sich in Chemnitz in den letzten Jahren zudem eine spannende Subkultur entwickelt. Mit zahlreichen Festivals, Club- und Open Air-Konzerten, Kleinkunstperformances, Märkten, Galerien und Off-Theater Spielstätten sorgt eine Vielzahl an Menschen aus der Kultur- und Kreativszene für bunte Farbtupfer im grünen Stadtbild. Beispielhaft hervorzuheben sind an dieser Stelle das Festival Begehungen, bei welchem jedes Jahr eine Brache begehbar gemacht und künstlerisch bespielt wird und die multimediale Biennale POCHEN, welche aller zwei Jahre künstlerische Maßstäbe mit Bezug zur Geschichte und Zukunft der Stadt setzt.
C THE UNSEEN Chemnitz auf dem Weg zur europäischen Kulturhauptstadt 2025 Mit rund einer halben Million Einwohner:innen ist die Region Chemnitz ein dicht besiedelter Ballungsraum in Europa. Chemnitz 2025 lädt ein, die Region zu entdecken, mit anderen Augen zu sehen und bekannte Pfade zu verlassen. Denn 38 Städte und Gemeinden bilden die Kulturhauptstadtregion. Was die Region verbindet, sind gemeinsame Traditionen, Umbrüche und Neuanfänge, gemeinsame Natur und Kultur.
Im Programm von Chemnitz 2025 widmet sich insbesondere In Bewegung! dieser gemeinsamen, lebhaften Geschichte. Das Programmfeld erzählt die Geschichten der Menschen aus der Region: Was bewegte sie in der Vergangenheit, was bewegt sie heute und was in der Zukunft? Am Kunst- und Skulpturenweg PURPLE PATH werden Arbeiten von renommierten internationalen, nationalen sowie regionalen Künstler:innen gezeigt, die von den Menschen, dem Handwerk und der Industrie der Region erzählen.