Das Stadtlabor „Alle Tage Wohnungsfrage. Vom Privatisieren, Sanieren und Protestieren“ beschäftigt sich mit der sogenannten Rückkehr der Wohnungsfrage in Frankfurt. Es nimmt die gemeinwohlorientierte Tradition der Stadt als Ausgangspunkt – den gemeinnützigen Wohnungssektor. Darin waren Unternehmen zu kostendeckender Bewirtschaftung verpflichtet, sodass preisvergünstigte Mieten gesichert werden konnten. Diese Tradition zeigt sich zum Beispiel an den frühen Eisenbahnersiedlungen, die die Deutsche Reichsbahn um 1900 für ihre Arbeiter*innen baute, aber auch am Programm Neues Frankfurt, in dem von 1925 bis 1930 viele Siedlungen und Wohnhausgruppen „für das Existenzminimum“ entstanden; ebenso in der Nachkriegsmoderne, als zahlreiche staatlich geförderte Siedlungen und preisvergünstigte Sozialwohnungen für die wachsende Stadtbevölkerung entstanden. 1990 wurde das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz, das diese Vergünstigungen jahrzehntelang ermöglichte, abgeschafft. Danach privatisierten viele Unternehmen die ehemals gemeinnützig bewirtschafteten Wohnungen oder richteten das Vermietungsgeschäft gewinnbringend aus. Vielerorts formierte sich Protest gegen den Ausverkauf der Wohnungen. Er entfacht sich heute im Kontext von umfassenden energetischen Sanierungsmaßnahmen neu. Denn häufig erleben Mieter*innen, dass notwendige Instandhaltungsmaßnahmen über Jahrzehnte vernachlässigt wurden und nun auf Kosten der Bewohner*innen teuer modernisiert wird. Die sozial-ökologische Wohnungsfrage birgt ein enormes gesellschaftliches Konfliktpotential – damals wie heute.
Der Fokus der Ausstellung liegt auf drei Frankfurter Wohnsiedlungen: der Eisenbahnersiedlung Knorrstraße im Gallus, der Carl-von-Weinberg-Siedlung aus dem Neuen Frankfurt im Westend und der Henri-Dunant-Siedlung aus der Nachkriegsmoderne in Sossenheim. Die Siedlungen verkörperten zu ihrer Zeit ein neues Verständnis von Wohnen und Leben. Eigentumsverhältnisse, Architektur, Wohnformen und der soziale Anspruch an den Wohnungsbau wurden neu gedacht.
Ein Exkurs in die Partnerstadt
Tel Aviv-Jaffa zeigt, dass die Wohnungsfrage kein lokales Problem ist, sondern Menschen weltweit betrifft. Die aussichtslose Lage vieler Bewohner*innen führte dort 2011 zu einem der größten politischen Proteste in Israel.
In der Ausstellung fügen Menschen, die in den Siedlungen wohnen und arbeiten, die politisch aktiv sind, sowie Expert*innen aus Wissenschaft, Stadtplanung und Politik ihr Wissen, ihre Erfahrungen und Erinnerungen zusammen. Gemeinsam fragen wir, was von den damaligen Ideen heute noch sichtbar und zu spüren ist.
Zur Ausstellungseröffnung erscheint eine 100-seitige Publikation.
https://historisches-museum-frankfurt.de/stadtlabor/wohnungsfrage
Arbeitsprozess
Alle Tage Wohnungsfrage
Seit etwa einem Jahrzehnt wird die Wohnungsfrage in Deutschland wieder als „soziale Frage unserer Zeit“ diskutiert. In jeder deutschen Großstadt gefährden die steigenden Miet- und Eigentumspreise den sozialen Zusammenhalt, weil ein Großteil der Bevölkerung kaum noch Zugang zu bezahlbarem Wohnraum findet. In Frankfurt stiegen die Mietpreise in den letzten zehn Jahren um durchschnittlich 60 Prozent. Die Hälfte aller Frankfurter*innen hat Anspruch auf eine Sozialwohnung, gleichzeitig verlieren immer mehr preisvergünstigte Wohnungen ihre Sozialbindung. Die „neue Wohnungsnot“ stellt jedoch ein wiederkehrendes Problem dar: Bereits 1873 zeigte Friedrich Engels in seinem Werk „Zur Wohnungsfrage“, dass der Wohnungsmarkt zu Versorgungsengpässen führt. Zusätzlich zur sozialen Wohnungsfrage stellt die Klimakrise uns vor ökologische Herausforderungen. Der alternde Gebäudesektor verbraucht rund ein Drittel des gesamten Energiebedarfs. Es muss saniert werden, aber wer soll die Kosten und Verantwortung für die ökologische Wende tragen, wenn viele Menschen finanziell bereits am Limit sind?

Stadtforscher*innen der Goethe-Universität Frankfurt kamen auf das HMF zu, um gemeinsam mit dem Stadtlabor einen Blick zurück auf bewährte Instrumente einer gemeinwohlorientierten Wohnungspolitik zu werfen. Was können wir aus der Vergangenheit und Gegenwart für den nachhaltigen Wohnungsbau und eine progressive Wohnungspolitik lernen?
Das Stadtlabor als Raum der kollaborativen Forschung
Mit dem Stadtlabor erarbeitet das Historische Museum Frankfurt seit 2010 partizipative und gegenwartsorientierte Ausstellungen über Themen, die in der Stadt verhandelt werden. Diese Stadtlabor-Ausstellung haben Forscher*innen der Goethe-Universität Frankfurt angestoßen. Sie verbindet das Wissen aus dem DFG-Forschungsprojekt „Home and Housing in Urban Regeneration Processes: Studying the Macro through the Micro in Tel Aviv-Jaffa and Frankfurt am Main“ von Prof. Dr. Bernd Belina, Prof. Dr. Sebastian Schipper und Tabea Latocha (Goethe-Universität Frankfurt) sowie Tovi Fenster, Lee Broide und Noy Thaller (Tel Aviv University) mit den Erfahrungen der Zivilgesellschaft. In einem partizipativen Ausstellungsprozess mit Bewohner*innen und anderen Akteur*innen wurden Fragestellungen des Forschungsprojektes aufgegriffen, weiterentwickelt und kollaborativ bearbeitet.

Die Wohnungsforschung des Instituts für Humangeographie betrachtet soziale Konflikte, die mit der anhaltenden Wohnungskrise zusammenhängen. Dabei orientieren sich die Forscher*innen an den Interessen jener Bevölkerungsgruppen, die Wohnungsnot und Verdrängung am stärksten erleben. Im Sinne einer kollaborativen und transdisziplinären Wissenschaft suchen sie den Austausch mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen aus Mietervereinen, klima- und mietenpolitischen Bewegungen, Sozialverbänden und betroffenen Mieter*innen. Sie möchten das gewonnene Wissen breit in die Öffentlichkeit tragen. Dafür bot das Stadtlabor das passende Format. Nach einem gemeinsamen Workshop von Universität und Museum begann der Stadtlabor-Prozess 2024 mit einer Sommertour in die drei genannten Frankfurter Siedlungen. Das Stadtlabor-Team erkundete die Stadtteile, kam ins Gespräch mit Bewohner*innen und lud zu Workshops ins Museum ein. In einem etwa 9- monatigen Prozess arbeiteten Menschen, die in den Siedlungen wohnen, arbeiten, forschen oder politisch aktiv sind, mit den Humangeograph*innen und dem Stadtlabor- Team an der Ausstellung, die nun zwölf Ausstellungsbeiträge und weitere Elemente zeigt.
In den Workshops mit den Stadtlaborant*innen bewegte sich die Gruppe zwischen persönlichen Geschichten und Erfahrungen sowie dem komplexen Thema des Mietwohnungs-markts. Thema war zum Beispiel der bauliche Verfall der Siedlungsgebäude bei gleichzeitig steigenden Mietpreisen. Die Stadtlaborant*innen tauschten sich über die oftmals fehlende Transparenz der Wohnungskonzerne während der Sanierungsprozesse und auch über Erfolge sowie Rückschläge von Protesten aus.
Dieser Austausch spiegelt sich in den subjektiven Beiträgen der Stadtlaborant*innen wider und stärkte ein Gefühl des Zusammenhalts. Die Beiträge fügten sich im Laufe des Stadtlabor-Prozesses mit den Erkenntnissen aus dem Forschungsprojekt und der historischen Recherche des Museumsteams zusammen.
Für das Museumsteam bestand während des Prozesses die Herausforderung, die Forschungsergebnisse der Humangeograph*innen und das komplexe Thema der Wohnungsfrage mit den Ideen für Ausstellungsbeiträge der Stadtlaborant*innen in eine verständliche Ausstellung zu überführen. Das prozesshafte Arbeiten des Stadtlabors erwies sich dabei als positiv: In den Vorüberlegungen zur Ausstellung blieb lange die Frage offen, wie sich das Wissen aus der Forschung – die Makroebene – gut an Besucher*innen vermitteln lässt, wenn gleichzeitig Raum für die subjektiven Perspektiven der Stadtlaborant*innen – der Mikroebene – bleiben soll. Die Antwort ergab sich im Laufe der Zusammenarbeit und spiegelt sich jetzt im Aufbau der Ausstellung wider. Das Museumsteam erarbeitete eine kontextualisierende Ebene, die die Ausstellung rahmt und historisches Wissen zu den Siedlungen und zum Wohnungsmarkt vermittelt. Im Zentrum steht die zweite, primär sinnliche Ebene der Stadtlaborant*innen. Hier berichten Bewohner*innen aus ihren Erfahrungen und Geschichten des Wohnens.
Die Ausstellung zeigt, dass es sich lohnt, zu protestieren und sich für Selbstbestimmung im Lebensbereich Wohnen einzusetzen. Für die Ausstellungsmacher*innen war es wichtig, nicht nur die gesellschaftlichen Herausforderungen und gravierenden Probleme bei der Thematik Wohnen zu zeigen. Stattdessen sollten auch Lösungen hervorgehoben werden. Als Ergebnis des Prozesses entstand zwischen Forschung und Stadtlabor eine Synthese: Was lernen wir, wenn wir das vielschichtige Wissen der Bewohner*innen mit den Menschen zusammenbringen, die in den Siedlungen arbeiten, die dazu forschen oder künstlerisch, kulturwissenschaftlich daran arbeiten?
Ausstellungsinhalte
Die Ausstellung gliedert sich in drei Bereiche: Intro in einfacher Sprache, Geschichte und Gegenwart der Frankfurter Siedlungen (Knorrstraße, Carl-von-Weinberg-Siedlung und Henri-Dunant-Siedlung) mit einem Exkurs nach Tel Aviv sowie dem Zukunftsbereich mit der zentralen Frage: Wie sieht die Siedlung von morgen aus?
Intro in einfacher Sprache
Die beiden Wissenschaftler*innen Prof. Dr. Sebastian Schipper und Tabea Latocha (Institut Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt) erklären in Videointerviews, warum die Wohnungsfrage eine der wichtigsten sozialen und ökologischen Fragen unserer Zeit ist, und warum bezahlbarer Wohnraum in großen Städten immer knapper wird. Statistiken und Bilder verdeutlichen die drastische Abnahme von geförderten Wohnungen: Besaß die Stadt Frankfurt im Jahr 2003 noch um die 39.000 Sozialwohnungen, sind es heute nur noch knapp 27.000. Der Bedarf an Sozialwohnungen hingegen steigt, denn auch die Mietpreise haben sich in den letzten 15 Jahren fast verdoppelt – von knapp 9€ pro Quadratmeter (2010) auf fast 16€ pro Quadratmeter (2022). Es zeigt, wie hoch das Sparpotenzial durch Sanierungen ist und erläutert, wann Sanierungen für die Menschen zum Problem wird: 52% der Deutschen haben Angst, dass Wohnen in Deutschland unbezahlbar wird.
Carl-von-Weinberg-Siedlung (Westend, Neues Frankfurt)
Die Carl-von-Weinberg-Siedlung entstand als eine der letzten Siedlungen des Neuen Frankfurt. Die ursprünglichen Pläne für die Siedlung mit rund 1.200 Wohnungen konnten aufgrund der Weltwirtschaftskrise 1929 nicht umgesetzt werden. 1930 wurde der erste Bauabschnitt mit 197 Wohnungen errichtet und in den folgenden Jahren weitergebaut. Die Wohnungen waren für die besserverdienenden Angestellten der Zentralverwaltung des Chemiekonzerns I.G. Farbenindustrie vorgesehen. Seit den 1990er Jahren wurde die gemeinwohlorientierte Vermietung der Wohnungen auf Gewinnorientierung umgestellt. Mittlerweile ist ein Großteil der Wohnungen im Eigentum des größten Immobilienanbieters in Europa, dem börsennotierten Wohnungsunternehmen Vonovia. Seit vielen Jahren gibt es in der Siedlung Konflikte um steigende Mieten und desolate Wohnzustände. Die folgenden Ausstellungsbeiträge beschäftigen sich mit der aktuellen Situation in der Carl-von-Weinberg-Siedlung sowie der kritischen Auseinandersetzung ihrer Geschichte.
Schimmelwohnung
In diesem Beitrag beschreibt Petra R. den desolaten Zustand von Wohnungen in der Siedlung. Eine große räumliche Installation zeigt den Nachbau einer leerstehenden Wohnung mit drastischer Schimmelbildung. An der Außenwand der Installation zeigen weitere Fotos in welchem schlechten Zustand die Bausubstanz der Häuser ist. Es wird deutlich, welche Folgen langjährige fehlende Instandhaltung für die Häuser haben und welchen Belastungen die Bewohner*innen dadurch ausgesetzt sind.
Schilderwald
Die Carl-von-Weinberg Siedlung ist umgeben von viel Grün: Neben großen, alten Bäumen und vielen Blumen lassen sich dort Rotkehlchen, Kleiber, Saatkrähen, Habichte, Stare und Buntspechte beobachten. Mit den Sanierungsarbeiten wurden viele der Bäume gefällt und die Spuren davon sind in Form von Absperrungen, Baumstümpfen und herumliegendem Grünschnitt sichtbar. In diesem Beitrag, einer Art Ikebana (Blumengesteck), werden die Ambivalenzen deutlich: Auf der einen Seite die durch die Geschichte gewachsene, als wohltuend empfundene Grüngestaltung und auf der anderen Seite Trostlosigkeit durch das Fällen der Bäume sowie des Implementierens von zahlreichen Verbotsschildern auf den Freiflächen durch die Eigentümerin Vonovia.
Meine Zukunft?
Das Mobile von Roxane Raphael zeigt die Vorzüge der Siedlung für ihre junge Bewohnerin: Die zentrale Lage, gute Anbindung durch öffentliche Verkehrsmittel zur weiterführenden Schule, fußläufig zum Campus Westend der Goethe-Universität Frankfurt (ansässig im ehemaligen I.G. Farben Gebäude), zahlreiche Einkaufsmöglichkeiten und nahegelegene Parks und Grünflächen geben ihr ein gutes Gefühl für die Zukunft. Was es nicht zeigt ist, dass die Familie immer mehr Miete zahlt, obwohl die Gebäude von Schimmel befallen sind. Das stellt die Mieter*innen vor die Entscheidung zwischen Lebensqualität in der Großstadt und hohen Mietpreisen, verbunden mit einem Risiko für die Gesundheit.
Bildung und Erziehung im Neuen Frankfurt – Eine Spurensuche
Die Seminargruppe der Goethe-Universität, angeleitet von Susanne Thimm, beschäftigt sich in diesem Beitrag mit der Geschichte von Bildung und Erziehung im Stadtplanungsprogramm Neues Frankfurt. Die Studierenden zeigen, den Zusammenhang von gesellschaftlicher Erziehung durch Architektur. Das Konzept von Familie und Care-Arbeit wird u.a. am Beispiel der Frankfurter Küche kritisch hinterfragt: Fortschritt oder Einengung? Auch erinnerungsbildende Aspekte werden anhand des Bezugs zwischen Frankfurt und Auschwitz thematisiert: mit der Rolle des I.G. Farbenkonzerns, für dessen Angestellte die Siedlung in Frankfurt damals gebaut wurde.
Beteiligte Studierende: Wiebke Aurand, Philipp Bausum, Julia-Marie Eichler, Tim Gernandt, Roya Hashemi, Nora Höfler, Adam Jari, Jasmina Lüdtke, Zehra Özkurt, Yannik Vankadari und Leni Zepke Protest organisieren Protest zu organisieren, erfordert viel Arbeit und Ressourcen. Aktivist*innen von „Eine Stadt für alle! Frankfurt“ haben deswegen die Bewohner*innen der Carl-von-Weinberg- Siedlung in ihren Anliegen unterstützt. Seit Herbst 2021 haben sie sich regelmäßig getroffen, um Probleme im Alltag der Mieter*innen zu besprechen. Die zahlreichen Mängel in der Siedlung wurden zusammengetragen und Briefe an Vonovia geschrieben.
Sie haben den Ortsbeirat und das Amt für Wohnungswesen informiert und mit der Presse gesprochen, was zu zahlreichen Medienberichten führte. Als im Frühjahr 2023 die Modernisierung anfing, formulierten sie Forderungen für eine sozialverträgliche Sanierung. Über die Jahre ist eine Fülle an Protest-Material entstanden, das sie in ihrem Ausstellungsbeitrag zeigen.
Henri-Dunant-Siedlung (Sossenheim, Nachkriegsmoderne)
Die Henri-Dunant-Siedlung entstand seit 1959 in Sossenheim. Hier realisierte die Neue Heimat, das größte gemeinnützige Wohnungsunternehmen Westdeutschlands, geförderte Wohnungen für Arbeiter*innen und Angestellte. Nach dem bundesweiten
Skandal um Korruption und die hohe Verschuldung der Neuen Heimat wurde die Henri- Dunant-Siedlung 1985 verkauft. Als Folge eines breiten Protestes der Bewohner*innen, übernahm das Land Hessen die Siedlung. Als die Hessische Landesregierung jedoch im Jahr 2000 einen Großteil ihres Wohnungsbestands privatisierte, verloren auch die Wohnungen in der Henri-Dunant-Siedlung den Status „öffentlich gefördert“. In den folgenden Jahren geriet die Siedlung aufgrund von mangelnder Instandhaltung und dem Wegfall von Treffpunkten in Kritik. Seit 2021 wird die Henri-Dunant-Siedlung saniert und soll bis 2030 klimafreundlicher werden. Obwohl die Mieten nach Abschluss der Maßnahme deutlich steigen werden, gibt es keinen organisierten Protest.
Die folgenden Ausstellungsbeiträge beschäftigen sich aus verschiedenen Perspektiven mit der Sanierung und dem gemeinschaftlichen Zusammenleben in der Henri-Dunant- Siedlung.
Kinder als Stadtteilforscher*innen und Reporter*innen
Die Kinder der Kita Farbenland in Sossenheim sind mehrere Wochen durch ihre Siedlung gestreift und haben sie genau erforscht. Denn seitdem die Siedlung saniert wird, verändert sich hier einiges. Während viele Eltern die Maßnahmen mit Sorgen vor möglichen Mietsteigerungen beobachten, sind die Bauarbeiten, die Veränderungen und die Entstehung neuer Orte für Kinder sehr spannend. Aus ihren Erkundungen entstanden ein großes Siedlungsmodell, mehrere Zeichnungen und zwei Filme mit Interviews zum Zusammenleben in der Siedlung.
Ein Bildungsprojekt der Kita Farbenland in der Henri-Dunant-Siedlung, Frankfurt- Sossenheim
Das Ein-Zimmer-Wohnungshaus
Eines der auffälligsten Häuser in der Henri-Dunant-Siedlung ist das 1968 gebaute, ehemalige Altenwohnheim. 65 Ein-Zimmer-Wohnungen und ein angrenzender Gemeinschaftspavillon boten Möglichkeiten für ein unabhängiges Leben, aber auch zum Austausch untereinander. Heute wohnen dort Menschen aus allen Generationen und mit unterschiedlichsten Lebenserfahrungen. In dem Ausstellungsbeitrag erzählen die Bewohner*innen, welche Bedeutung das Haus und die Siedlung für sie haben und welche Rolle für sie heute gemeinschaftliches Zusammenleben spielt.
Vom Wohnen in einer Ikone
Die Siedlung Höhenblick in Ginnheim wurde im Rahmen des städtebaulichen Programms Neues Frankfurt errichtet und steht heute unter Denkmalschutz. Gabriele Klieber setzt sich in drei Linoldrucken humorvoll damit auseinander, welche Herausforderungen das Wohnen in einem solch historischen Gebäude während der gerade stattfindenden Sanierungsprozesse mit sich bringen: Die Gemeinschaftsterrassen sind auf einmal gesperrt, die Fassade blättert und die Mieter*innen bleiben oft ratlos zurück.
Siedlung Knorrstraße (Gallus, Eisenbahner-Siedlung)
Die Siedlung Knorrstraße entstand zur Zeit der Industrialisierung des Gallusviertels ab den 1880er Jahren. Die Deutsche Reichsbahn benötigte damals einfache und bezahlbare Unterkünfte für ihre Arbeiter*innen, die im nahegelegenen Ausbesserungswerk arbeiteten. Die sogenannten Eisenbahner-Wohnungen wurden von der Eisenbahner- Wohnungsbaugesellschaft als öffentliches Eigentum verwaltet und gemeinnützig bewirtschaftet. Nach Abschaffung des Wohnungsgemeinützigkeitsgesetzes (WGG) 1990 und im Zuge der Privatisierung der Bundesbahn gingen die Gebäude der Knorrstraße von der gemeinnützigen Bundesbahn-Wohnungsgesellschaft in Besitz der profitorientierten Deutsche Annington, heute die börsennotierte Vonovia, über. In den letzten Jahren wurden die Gebäude in der Knorrstraße saniert und um weitere Gebäude ergänzt. Laut Vonovia sollte durch die Sanierung die „ästhetische Lücke zum Europaviertel geschlossen werden“. Viele Mieter*innen wehrten sich mit Protest gegen steigende Mieten.
Die folgenden Ausstellungsbeiträge beschäftigen sich mit dem heute abgeschlossenen Sanierungsprozess und damit verbundenem Protest in der Knorrstraße sowie Alternativen zur Privatisierung durch große Wohnkonzerne.
Damals Eisenbahner Bernhard Schombera ist sein Leben lang Eisenbahner und lebt seit 1995 in einer der Eisenbahner-Wohnungen gegenüber der Knorrstraße. Als auch diese an die Deutsche Annington verkauft werden sollten, protestierte er heftig mit seinen Kolleg*innen von der Eisenbahner-Gewerkschaft. Der Verkauf konnte nicht verhindert werden, doch er entschloss sich, die Wohnung einfach selbst zu kaufen. So taten es ihm etwa zwei Drittel der Mieter*innen in seinem Hause gleich. Heute organisieren sie sich selbst mit einer eigenen Hausverwaltung und Hausmeister.
Gemeinsam sind wir stark – Solidarität im Angesicht der Gentrifizierung
Als die Sanierung in der Knorrstraße angekündigt wurde, wollten dies viele Mieter*innen nicht ohne Möglichkeit der Mitsprache hinnehmen. So organisierte Roberto Stojanoski mit seinen Nachbar*innen einen gemeinschaftlichen Widerstand.
Sie bildeten eine starke Gemeinschaft und führten unter Mithilfe von „Eine Stadt für Alle! Frankfurt“ und „Solidarisches Gallus“ kreative Aktionen durch, um auf ihre Belange aufmerksam zu machen. So erreichten sie z.B. Mietminderungen und den Bau eines größeren Spielplatzes. Roberto Stojanoski will mit seinem Beitrag zeigen, dass sich Protest lohnt.
Ein Gespenst geht um – das Gespenst der Enteignung
Im Juni 2019 machten Frankfurter Aktivist*innen anlässlich der Hauptversammlung des börsennotierten Immobilienkonzerns Deutsche Wohnen auf die bundesweite Kampagne „Deutsche Wohnen und Co. Enteignen!“ aufmerksam. Neun Menschen, als Geister verkleidet, trugen Schilder mit der Aufschrift „Enteignen“. Mit dieser Protestaktion und einer Pressekonferenz vor der Hauptversammlung im Kongresszentrum Kap Europa im Frankfurter Gallus brachten sie die Möglichkeit einer Enteignung und Vergesellschaftung des Konzerns ins Spiel. Für die Ausstellung wurden die neun Geister neu inszeniert.

Wohn-Novia enteignen – was nun?
Auch in diesem Beitrag geht es um die Möglichkeit der Enteignung. In einem Gedankenspiel wird dazu anregt, sich mit Vergesellschaftung auseinanderzusetzen: Das private Wohnungsunternehmen Wohn-Novia ist Eigentümerin der Siedlung Knorrstraße im Gallus und wird nun vom Land Hessen enteignet. Das Land übergibt die Gebäude an die Kommune. Die Stadt Frankfurt steht als nächstes vor der Frage, was mit den Wohngebäuden passieren soll. Die Besucher*innen werden anhand eines Flussdiagramms, das einige Möglichkeiten aufzeigt, gefragt, wie sie sich entscheiden würden. Auf einer Postkarte können Utopien des Zusammenwohnens für die Knorrstraße hinterlassen werden.

Exkurs Tel Aviv-Jaffa
Im Rahmen der Kooperation mit dem DFG-Forschungsprojekt “Home and Housing in Urban Regeneration Processes: Studying the Macro through Historiographies of the Micro in Tel Aviv-Jaffa and Frankfurt am Main” (Goethe-Universität Frankfurt, Tel Aviv University) wirft die Ausstellung auch einen Blick in Frankfurts Partnerstadt Tel Aviv- Jaffa. Während sich die beiden Städte in ihrer Partnerschaftsvereinbarung 1980 zum Austausch über Stadtentwicklung und sozialen Wohnungsbau verpflichteten, stehen sie heute – wie viele Metropolen weltweit – vor den gleichen Problemen: Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum wächst und Stadterneuerungsmaßnahmen führen zu massiven Verdrängungsprozessen. In einer der größten Proteste Israels wehrten sich Bewohner*innen 2011 in Zeltlagern gegen die steigenden Wohnkosten und die zunehmende soziale Ungleichheit.

Im Blick auf die Geschichte des (öffentlichen) Wohnungsbaus in Tel Aviv-Jaffa werden die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten zur Entwicklung in Frankfurt sichtbar. Die Fallbeispiele der beiden Stadtteile HaTikva und Givat Amal Bet machen deutlich, welche Auswirkungen eine zunehmend neoliberale Wohnungspolitik in Tel Aviv-Jaffa auf die Bewohner*innen hat. Die Wissenschaftlerinnen Lee Broide und Noy Thaller (Tel Aviv University) machen in ihren Untersuchungen die Verdrängungsprozesse in den Nachbarschaften sichtbar. In ihren Beiträgen zeigen sie eine Auswahl ihrer Forschungsergebnisse: Geschichten der (ehemaligen) Bewohner*innen, Zeitungsartikel, Fotos und Mental Maps, die während Interviews angefertigt wurden.
Zukunft: Wie sieht die gemeinwohlorientierte Siedlung von morgen aus? Im Zukunftsbereich blicken wir auf den Ausgangspunkt der Ausstellung: Wie können wir im 21. Jahrhundert an die gemeinwohlorientierte Tradition der Wohnungspolitik anknüpfen, die es schon einmal in Frankfurt gab? Wie kann das Bauen von Wohnungen der Allgemeinheit zu Gute kommen? Welche neuen Ideen und Utopien kann es geben?
Dieser Bereich ist als großer Arbeitstisch gestaltet: Ein Steckspiel lädt Besucher*innen ein, Ihre Vorstellungen zum Siedlungsbau von morgen zu visualisieren. Ein weiterer wichtiger Bestandteil dieses Bereichs ist die Präsentation von wohnungs- und mietenpolitischen Instrumenten: Von Baulandbeschluss bis Wohnungstauschbörse wird aufgezeigt, welche Mittel Kommunen und Stadtgesellschaft zur Verfügung haben, um das Wohnen in eine neue Gemeinnützigkeit zu tragen. Drei Beispiele aus Wien (Wohnpark Alt-Erlaa), der Schweiz (Neustart-Schweiz) und London (Peoples Plan) zeigen zudem, wie der Erhalt und Neubau von sozialen wie ökologischen Quartieren ästhetisch möglich ist.

Expertinnen aus Stadtpolitik (Katharina Wagner, Leiterin des Amtes für Wohnungswesen Stadt Frankfurt), Architektur (Astrid Wuttke, Architektin bei schneider+schumacher sowie Geschäftsführerin der ernst-may-gesellschaft e.V.) und Wissenschaft (Dhara Patel, Stadtsoziologin TU Darmstadt) kommentieren in Videointerviews die Herausforderungen für den Siedlungsbau von morgen.
Der Zukunftsbereich lädt ein, gemeinsam zu überlegen, wie ein gerechtes Wohnen gestaltet werden kann. Er soll in den kommenden Wochen und Monaten wachsen: Durch die Besucher*innen der Ausstellung und durch Veranstaltungen im Rahmenprogramm werden weitere Perspektiven, Wünsche und Ideen für das Wohnen der Zukunft ergänzt.
SOS Wohnungsfrage
Wie brisant die Wohnungsfrage in Frankfurt auch außerhalb der drei untersuchten Siedlungen ist, wurde im Arbeitsprozess zur Ausstellung deutlich. Immer wieder wandten sich Mieter*innen, aber auch Initiativen aus der ganzen Stadt ans Museum: Sie berichteten von bevorstehenden oder laufenden Verkäufen an Investor*innen, Sanierungen in ihrem Wohnhaus oder der Nachbarschaft, von steigenden Mieten und der Sorge vor Verdrängung aus dem eigenen Stadtteil.
Ihnen bietet eine in die Ausstellung integrierte Station „SOS Wohnungsfrage“ Raum für Austausch. Hier können Mieter*innen auf die Probleme in der eigenen Siedlung aufmerksam machen, um Unterstützung bitten oder neugegründete Organisationen und Angebote vorstellen.
Satelliten-Ausstellungen in der Stadt
Die Ausstellung erstreckt sich auch über das Museum hinaus: In drei Ausstellungssatelliten werden vom 2. bis 22. September an Plakatwänden und Litfaßsäulen die Entstehungsgeschichten der Siedlungen bis hin zu Gegenwart direkt vor Ort präsentiert: Carl-von-Weinberg-Siedlung: Ecke Hansaallee/Miquelallee Knorrstraße: Europa-Allee 73/Emser Brücke Henri-Dunant-Siedlung: Dunantring 1/Schaumburger Straße
Ausstellungsgestaltung
Die Ausstellung zeigt, dass sich die Wohnungsfrage an der Sanierung zuspitzt: Mieter*innen wollen in einer Wohnung leben, die sie sich leisten können, und die in einem guten und komfortablen Zustand ist. Auf der anderen Seite haben viele Mieter*innen Angst, sich nach der Sanierung die Miete nicht mehr leisten zu können.
Der Gestalter Thomas Rustemeyer (Karlsruhe) hat den Konflikt um die Frage der Sanierung als Ausgangspunkt für die Gestaltung der ca. 600 qm großen Ausstellungsfläche genommen. Er greift die Themen der Wohnungsfrage so auf abstrakte Weise auf. Der Ausstellungsraum wird durch Raumstrukturen aus Gipskarton gegliedert. Diese bilden offene Raumecken, die den Maßstab einer gewöhnlichen Wohnung in das Museum bringen. Die Oberflächen der Raumstrukturen sind roh und unverputzt und bleiben in einem Zwischenzustand des Unfertigen. In den Raumecken werden die Positionen der Stadtlaborant*innen präsentiert. Die für die Konstruktion der Raumstruktur genutzte „Gipskarton-Einmannplatte“ – ihr Format und Gewicht erlaubt das handliche Transportieren und Montieren durch lediglich eine Person – ist ein Standardprodukt, das massenhaft in der Sanierung Verwendung findet. Nach Beendigung der Ausstellung werden die „Einmannplatten“ rückgebaut und können im Sinne ihrer eigentlichen Bestimmung – der Sanierungen von Wohngebäuden – eingesetzt werden.
Publikation
Dokumentation: Alle Tage Wohnungsfrage. Vom Privatisieren, Sanieren und Protestieren Herausgeber*innen: Katharina Böttger, Susanne Gesser, Doreen Mölders, Noah Nätscher, Angelina Schaefer Redaktion: Katharina Böttger, Tabea Latocha, Noah Nätscher, Juliane Phieler, Angelina Schaefer Gestaltung: Design Practice: Anna Kraus, Charalampos Lazos Lektorat: Christiane Christ Übersetzung: James Lyons Druck: Pöge Druck ISBN: 978-3-89282-090-1