Interview mit Regisseurin Marie Noëlle HEINRICH VOGELER (2022)


Seit 1982 ist Marie Noëlle als Drehbuchautorin, Schriftstellerin und Filmemacherin tätig. 1995 schrieb sie ihren Debüt-Film ICH ERZÄHLE MIR EINEN MANN, bei dem sie auch Regie führte und der für den Max-Ophüls-Preis nominiert wurde. 1998 realisierte sie KOMM DOCH AN DEN TISCH für ARTE und den Bayerischen Rundfunk. 2007 schrieb und inszenierte sie den Spielfilm DIE FRAU DES ANARCHISTEN. Die deutsch-französisch-spanische Koproduktion erhielt 2008 den Bernhard Wicki Filmpreis – Die Brücke – Der Friedenspreis des Deutschen Films sowie zahlreiche ausländische Auszeichnungen. 2009 lief der Film auf dem Sundance Filmfestival. Ihr Drehbuch wurde im gleichen Jahr in Los Angeles für den Humanitas Prize nominiert. Ende des Jahres 2012 kam das hochkarätig besetzte Historiendrama LUDWIG II. in die Kinos. Der Film, der an Originalschauplätzen gedreht wurde, erregte großes Medieninteresse und gilt als einer der aufwändigsten deutschen Kinoproduktionen 2011. 2016 kam ihr Spielfilm MARIE CURIE als europäische Koproduktion in die Kinos und gewann den Bayerischen Filmpreis 2017. Neben der Tätigkeit als Filmemacherin schreibt Noëlle Romane und Kurzgeschichten und setzt sich für die Kulturförderung ein. So gründete sie 2005 den Verein „Treffpunkt Filmkultur“, der sich speziell an Kinder und Jugendliche richtet. Zudem übernimmt sie Lehraufträge und ist seit 2008 an der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) München tätig.

INTERVIEW – MARIE NOËLLE

Die Biografien historischer Persönlichkeiten spielen in Ihrem OEuvre eine zentrale Rolle. Nach Marie Curie, Ludwig II oder auch Albrecht Dürer geht es in Ihrem neuen Kinofilm um das Leben und Werk des Malers Heinrich Vogeler. Wie gehen Sie beim Schreiben vor, um sich diesen historischen Figuren anzunähern?

Wenn es darum geht, das Porträt einer real existierenden Person zu zeichnen, muss man natürlich erst eine intensive Recherche machen. Ich möchte diese Person in all ihren Facetten kennenlernen. Mich interessieren dafür nicht so sehr Biografien, die meistens schon eine Interpretation der Persönlichkeit anbieten und oft den besonderen Standpunkt des/der Biografen*in wiedergeben – sondern in erster Linie allerlei Dokumente aus der Hand der Person selbst, wie Tagebuch-Eintragungen, Briefe an Familie und Freunde, usw. Im Falle Vogeler war es relativ einfach seine „Stimme“ kennenzulernen, da er verschiedene Versuche gemacht hat, eine Selbst-Biografie zu schreiben, und sehr viele Briefe hinterlassen hat. So konnte ich richtig eintauchen, um ein Gefühl für den Menschen zu bekommen und als quasi sein „Alter Ego“ besondere Aspekte seiner Persönlichkeit zu beleuchten. Bei Vogeler musste ich auch sein Werk näher kennenlernen. Die Bilder geben viel Auskunft über die Seelenlage ihres Erzeugers und erzählen andere Seiten seiner Persönlichkeit. Ich konnte seine Stimmungen besser nachvollziehen, und es war für mich sehr spannend, zu sehen, wie er sich immer wieder neu erfindet und weiter forscht bis zum Ende in Kasachstan.

Was war der Ausgangspunkt für Ihren neuen Film bzw. was hat Sie an Heinrich Vogeler gereizt?

Ich hatte von der Künstlerkolonie in Worpswede gehört im Zusammenhang mit Paula Modersohn-Becker, deren Werk ich in Frankreich kennengelernt habe. Heinrich Vogeler war aber für mich nur ein Name, jemand, der die junge Künstlerin gefördert hatte. Ich kannte sein Werk kaum. Als ich anfing, mich damit zu beschäftigen, reizten mich die Vielfalt seiner Kunst und sein Wille, die Welt mitzugestalten auf möglichst vielen Ebenen bis hin zum Politischen.

Der Film setzt sich aus einer Vielzahl von Ebenen zusammen, bei denen historische Gegebenheiten zeitgenössisch rekontextualisiert werden. Warum war es Ihnen wichtig diese historische Distanz filmisch zu überwinden?

Einerseits spielt Zeitgeschichte mit dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution eine große Rolle in dieser Künstlerbiografie. Andererseits hat sein Leben etwas Universelles. Bei der Vielfalt der Begabungen und Interessen von Vogeler hatte ich ziemlich früh die Idee eines Kaleidoskops, um seine Geschichte zu erzählen, in dem historische und persönliche Ebenen aufeinanderprallen oder sich ergänzen in immer neuen Bildern.

Es war mir auch wichtig, die hohe künstlerische Qualität seines Werkes aus der „internationalen“ Vergessenheit zu ziehen. Deshalb ist die Hauptfrage, die unter dem ganzen Film steht: „Was ist ein Künstler?“. Auch weil Beuys ein großer Bewunderer des Werkes von Vogeler war und uns belehrt hat: „Jeder Mensch ist Künstler“.

So habe ich versucht zu zeigen, dass bestimmte Elemente unabhängig von der Zeit, in der wir leben, unveränderlich und auch heute noch gültig sind. Ein/e Künstler*in hat heute ähnliche Herausforderungen zu meistern wie gestern. Wenn Sophie Sainrapt auf den Film „Rodin“ trifft, spielt die Zeitebene keine Rolle mehr, es sind nur zwei Künstler unter sich

Es ist auch das erste Mal, dass ich dokumentarisch arbeite, so wollte ich transparent sein und die Grenzen zwischen dokumentarischer und fiktionaler Ebene durchlässig lassen: Zum Beispiel gab es zu Vogelers Zeiten noch Pferdekutschen auf den Straßen von Paris, aber die Atmosphäre war ähnlich, deshalb dokumentiere ich unseren Darsteller, wie er sich heute als Vogeler in ein Café setzt und einen Kaffee bestellt. Das Lustige dabei war, dass der Kellner, der nicht „gewarnt“ war, die Bestellung ganz normal aufgenommen hat, obwohl Florian Lukas eindeutig im Kostüm war!

Welche Rolle spielt dabei das Drehen an Originalschauplätzen?

Es ist für mich sehr wichtig, die Originalplätze zu sehen (und wenn möglich auch dort zu drehen), auch wenn sie natürlich heute nicht mehr ganz wie damals aussehen, aber man kann sich besser vorstellen, wie die Leute darin gelebt haben… Und wenn man horcht, kann man sie sogar manchmal hören!

Als wir bei Ludwig II. im Schloss Neuschwanstein gedreht haben, durfte ich in den Pausen auf den Balkon des höheren Turms gehen, um ein bisschen Ruhe zu genießen. Da hatte man eine unglaubliche Sicht auf die Landschaft rundherum. Da wir nur nachts drehen durften, war sie noch beeindruckender, weil meistens in Mondlicht getaucht. Ich konnte mir vorstellen, wie Ludwig dort steht und überlegt, ob er sich in den Abgrund stürzt. Und ich meine, ich habe ihn auch „gespürt“, wie er in meinem Rücken steht und lächelt, weil er merkt, dass ich sein „Werk“ bewundere.

Bei Vogeler war es sehr wichtig, den Barkenhoff, sein Haus in Worpswede zu sehen: Er hat das ursprüngliche Gebäude komplett umgebaut, ganz nach seinen Vorstellungen, und hat daraus ein Künstler-Zentrum und das Herz des damaligen Worpsweder Lebens gemacht: Das versteht man sofort, wenn man es sieht, denn das ist das größte „Privathaus“ von Worpswede. Man versteht, dass Vogeler mit seinen Umbauten sich ein „Reich“ kreiert hat, und nicht nur ein Nest für seine Familie.

Ich bin sehr dankbar, dass wir dort drehen konnten.

Maler, Grafiker, Architekt, Designer, Pädagoge, Schriftsteller und Sozialist: Heinrich Vogeler hat sich im Laufe seines Lebens immer wieder „neu erfunden“ wodurch sein Oeuvre vielschichtig und abwechslungsreich wurde. Wie würden Sie den Künstler Heinrich Vogeler beschreiben?

Er ist ein Beobachter und ewig Suchender, der seine vielen Begabungen einsetzte, um die Welt zu eruieren und sie besser zu machen. Er suchte nach dem Weg der Gerechten… Und sein Weg ist seine Kunst.

Im Film kommt es in Paris zu einer inszenierten Begegnung zwischen der zeitgenössischen Künstlerin Sophie Sainrapt und dem berühmten Künstler Auguste Rodin. Wenn Sie die Möglichkeit hätten, durch die Zeit zu reisen, gibt es eine*n Filmregisseur*in mit der/dem Sie sich gern über Ihre Arbeit austauschen würden?

Ich würde auf jeden Fall liebend gerne die geniale und humorvolle Alice Guy-Blaché kennenlernen, die erste Filmemacherin der Welt, die erste, die nicht dokumentarisch gearbeitet hat, sondern Geschichten erfand und daraus Filme gemacht hat, insgesamt über 700 Filme hat sie gedreht, darunter die ersten „Komödien“… aber sie ist heute kaum bekannt.

Und ich würde auch gerne ihren „Macho-Kollegen“ und Verführer Charlie Chaplin kennenlernen. Seine Filme sind bis heute Juwelen der Filmgeschichte und für mich so etwas wie Lieblings-Gedichte, die ich immer wieder gerne anschaue für ihre bitterbösen Einfälle und die Leichtigkeit, mit der er uns das Drama des Lebens nahebringt. Ich hatte das Glück, zwei seiner Töchter kennenzulernen, und habe ihre Erzählungen sehr genossen

Gab es besondere Herausforderungen beim Dreh? Oder auch Momente, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?

Ja, es gab große Herausforderungen! Als Allererste, der ERSTE CORONA LOCKDOWN nach drei Tagen Dreh in Paris: Ich glaube, wir waren die ersten, die einen Dreh abgebrochen haben damals. Danke an den Produzenten dafür, denn für mich war die Vorstellung unerträglich, dass irgendjemand beim Team oder Darsteller*innen wegen des Drehs krank werden würde. Wir wurden auch dafür belohnt, denn so durften wir die wunderschönen Farben des Spätfrühlings und das zarte Grün der Worpsweder Wiesen einfangen, was dem Romantischen des Werkes von Vogeler viel besser entspricht.

Die zweite Herausforderung war, dass unser „Dokumentarfilm“ doch sehr viele fiktionale Szenen beinhaltet, darunter sogar Ensemble-Szenen, die man mit einem reduzierten Team kaum meistern kann. Es ist uns trotzdem gelungen, weil wir in vielen Hinsichten erfinderisch waren und weil jede*r, die/der eine Hand frei hatte, mitgeholfen hat.

Und die dritte Herausforderung war, dass ich den Film irgendwie nach dem Dreh nochmals schreiben musste, um beim Schnitt all die ganz verschiedenen Ebenen dramaturgisch zusammenzubringen.

Möchten Sie weiterhin an Filmprojekten arbeiten, bei denen historische Figuren im Zentrum stehen, und wenn ja, welche werden das sein?

Ich möchte auf jeden Fall an VIELEN NEUEN Filmprojekten arbeiten: Ich liebe es, Geschichte in Bildern zu erzählen, mir Szenen zu überlegen und sie mit Schauspieler*innen lebendig werden zu lassen. Es können historische Geschichten mit realen historischen Figuren im Zentrum sein, aber auch frei erfundene Storys, die unsere heutige Welt widerspiegeln. Ich entwickle zurzeit u.a. ein Kinoprojekt über drei sehr unterschiedliche Menschen, die der Zufall aufeinandertreffen lässt und die ein Abenteuer in einem abgeschotteten New Yorker Viertel zusammen meistern müssen.

Ich dachte immer, dass es wichtig ist, die Vergangenheit zu kennen, um unsere Zeit besser zu verstehen. Ich muss heute feststellen, dass viele Leute lieber ihre Amnesie pflegen. Deshalb habe ich Lust, auch zeitgenössisch zu erzählen. Aber „Role Models“ sind wichtig, und unsere Welt ist so voller erstaunlicher Persönlichkeiten, dass ich mich wundern würde, wenn ich nie wieder einen Film über eine historische Figur machen würde!

FILMOGRAFIE (Auswahl)

2020 HEINRICH VOGELER
DOKU-FIKTION I KINO (Buch & Regie)
2021 DÜRER
DOKU-FICTION| ARTE (Buch & Regie)
2016 MARIE CURIE

SPIELFILM | KINO | (Buch & Regie)

Bayerischer Filmpreis 2017 – Beste Regie & Bestes Szenenbild
Deutscher Filmpreis 2017 – Nominierung für Bestes Kostümbild | Beste Filmmusik
2012 LUDWIG II.

SPIELFILM | KINO (Buch & Ko-Regie mit Peter Sehr)

Bayerischer Filmpreis 2013 – Bester Nachwuchsdarsteller
Deutscher Filmpreis 2013 – Nominierung – Bester Nachwuchsdarsteller
2008 DIE FRAU DES ANARCHISTEN
SPIELFILM | KINO (Buch, Regie & Produktion)
Filmfest München 2008 – Winner Bernhard Wicki Filmpreis
Deutscher Filmpreis 2009 – Nominierung für Bestes Kostüm & Beste Musik
Sundance Film Festival 2009 – Nominierung | Humanitas Prize

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