Interview Vadil Perleman PERSISCHSTUNDEN (2019)


Vadim Perelman, Jahrgang 1963, wurde als Kind jüdischer Eltern in Kiew (Ukraine, damals Sowjetunion) geboren. Fünf Jahre nach dem Unfalltod des Vaters durfte der 14-Jährige mit seiner Mutter ausreisen und lebte in ärmlichen Verhältnissen erst in Wien, dann in Rom. Später immigrierten sie nach Kanada. Dort studierte Perelman erst Naturwissenschaften, bis es ihn zur Filmwissenschaft zog. In Toronto studierte er zwei Jahre am Ryerson Film Institute und gründete anschließend eine Produktionsfirma für Werbe- und Musikvideos. Er perfektionierte sein Handwerk als Regisseur und Schnittmeister für Musikvideos und zog nach Los Angeles. 2003 verfilmte und produzierte Vadim Perelman das Drama HAUS AUS SAND UND NEBEL (House of Sand and Fog, nach André Dubus` III Romanvorlage) und schrieb mit Shawn Otto das Drehbuch. Für sein Regiedebüt konnte er die Oscar-gekrönten Schauspieler Ben Kingsley und Jennifer Connelly gewinnen. HAUS AUS SAND UND NEBEL wurde dreimal für den Oscar nominiert, in den Kategorien Bester Hauptdarsteller (Ben Kingsley), Beste Nebendarstellerin (Shoreh Aghdashloo) und Beste Filmmusik (James Horner). Seinen zweiten Spielfilm, erneut eine Literaturadaption, DAS LEBEN VOR MEINEN AUGEN (Life Before Her Eyes), drehte Vadim Perelman 2007 mit Uma Thurman und Evan Rachel Wood. Danach führte er Regie bei TV-Miniserien wie 2015 „Izmeney“ (Adultery) und 2018 „Kupi Menya“ (Buy me). Nach PERSISCHSTUNDEN, seinem ultimativen Herzensanliegen, arbeitet Vadim Perelman an zwei Projekten: THE TALISMAN, ein von Steven Spielberg und Kathleen Kennedy produziertes Fantasy-Abenteuer, und TRUCE (Arbeitstitel), ein Film über den Ersten Weltkrieg.

Interview

Wie sind Sie auf diese ergreifende Geschichte gestoßen?

Erstmals hörte ich von PERSISCHSTUNDEN von Produzent Timur Bekmambetov, als wir über mögliche gemeinsame Projekte sprachen. Ich habe mich sofort in diese Geschichte verliebt, war von ihrer emotionalen Wucht sehr beeindruckt und inspiriert. Und im ersten Moment erkannte ich das große Potenzial und die mögliche Wirkung auf das Publikum. Ich dachte mir: Bei diesem wundervollen Projekt will ich dabei sein!

Liegt der Handlung eine wahre Begebenheit zugrunde, oder wurde sie von Fakten inspiriert?

Der Film basiert auf einer Kurzgeschichte namens „Erfindung einer Sprache“ von Wolfgang Kohlhaase. Aber es gibt hunderte ähnlicher Geschichten, in denen Menschen durch Witz und Verstand den Nazi-Terror überlebten. Ich fände es schön, wenn PERSISCHSTUNDEN eine Zusammenfassung all’ dieser Schicksale wäre. Tatsächlich erzählte ein Freund von Wolfgang Kohlhaase ihm einige Jahre nach dem Krieg eine ähnliche Geschichte, mit nur einigen Überschneidungen. Kohlhaases Zugang konzentrierte sich auf ganz andere Elemente. Es gibt Geschichten, die nur eine Sache verbindet: Eine totale Verrücktheit, eben weil sie Mut, Glück, schnelle Reaktionsweise erforderten und die Hilfe von Einzelnen, um der unerbittlichen Verfolgung deutscher Faschisten und ihrer Unterstützer zu entkommen.

Wie realistisch sollte der Film sein, und zu welcher Art von Recherchen führte das? Nach welchen Vorlagen haben Sie beispielsweise die Lager gebaut?

Mein Film sollte realistisch sein, deshalb haben wir uns genau informiert wie die Transit-Lager gebaut waren, wie sie aussahen, wie lange die Menschen dort untergebracht waren. Das Lager Natzweiler-Struthof nahe der deutsch-französischen Grenze im Nordosten Frankreichs hat uns sehr inspiriert. Es flossen aber auch weitere Konstanten verschiedener Lager ein: Die Haupttore in unserem Film entsprachen beispielsweise denen aus Buchenwald. Die Rekonstruktion unseres Überganglagers basiert auf unterschiedlichem Foto- und Videomaterial. Uns war daran gelegen, durch die Bilder eine wahrheitsgetreue und authentische Atmosphäre zu schaffen.

Warum fiel Ihre Wahl für die Hauptfiguren auf Lars Eidinger und Nahuel Pérez Biscayart? Vor allem die Entscheidung für Nahuel interessiert, betritt er hier doch schauspielerisches Neuland weit entfernt von seinen bisherigen Rollen.

Lars und Nahuel sind beide sehr außergewöhnliche Schauspieler, die ihre Erfahrungen in anderen Filmen sammelten und einfach traumhaft und perfekt für die Rollen waren. Von Anfang an waren sie unsere erste Wahl, ich hätte mir nicht vorstellen können, jemand anders als Koch und Gilles zu besetzen. Besonders jetzt, im Nachhinein gesehen, wäre das unmöglich. Lars und Nahuel schlüpften voll und ganz in die Haut der Figuren, lebten sie 100-prozentig. Ich bin glücklich, dass Nahuel diese neue Rolle so begeistert annahm, ein Wechsel ist ja immer gut. Ich vertraute ihm, auch wenn er bis dato mit so einer Herausforderung noch nicht konfrontiert war.

Wie lief die Vorbereitung der Schauspieler, konnte Nahuel Pérez Biscayart Deutsch sprechen?

Die Vorbereitungen dauerten schon eine Weile. Lars Eidinger und Alexander Beyer, der den Kommandanten verkörpert, wussten sehr viel über die Geschichte der Konzentrationslager. Nahuel sprach Deutsch, Italienisch und Französisch, was uns die Arbeit erleichterte, da seine Figur ja zweisprachig ist. Nahuels Muttersprache ist Spanisch, er kommt aus Argentinien. Es war unglaublich, wie er die Sprache und Aussprache auf- und begreift, einfach sensationell. Er sprach sehr gut Deutsch, was meine deutschen Freunde und Mitarbeiter sehr beeindruckte. Wie er eine Sprache lernt, das ist schon eine ganz besondere Gabe. Große Hilfe bekamen wir von unserem Geschichtsberater Jörg Müller, der ständig in Kontakt mit unseren deutschen Schauspielern stand und darauf achtete, dass sie sich wie Nazis in Gestik und Mimik benahmen und handelten.

Ein starkes Leitmotiv des Films ist die Erinnerung, besonders hervorgehoben in den Anfangs- und Schlussszenen: Wie wichtig ist es, sich eine Sprache einzuprägen und die Rolle der Sprache in der Erinnerung zu halten, besonders, wenn so viele Beweise vernichtet wurden vor Kriegsende. Können Sie uns darüber etwas erzählen?

Die Erinnerung ist eines der wichtigsten Themenstellungen im Film wie auch der menschliche Einfallsreichtum. Wie menschliche Erfindungsgabe und menschlicher Geist beim Überleben helfen, das ist wirklich unglaublich. Ich denke, das ist schon im Drehbuch zu spüren. Es ist doch unfassbar in dieser Geschichte, wie Gilles die Namen von Gefangenen in eine fremde Sprache transformiert und sie damit unsterblich macht. Während des Krieges gab es so viele Menschen, die, ohne Spuren zu hinterlassen, von der Bildfläche verschwanden und unbekannt blieben, weil die zur Aufklärung notwendigen Archive und Auflistungen in den Lagern von den Nazis verbrannt wurden.

Der Film handelt auch von der Verbindung zwischen Sprache und Immigration: Sie mussten auch Englisch lernen, bevor Sie nach Kanada immigrierten. Was bedeutete dieser Lernprozess für Sie, und inwieweit ist er für diese Geschichte wichtig?

Das Thema Einwandern betrifft in diesem Film nur Hauptsturmführer Koch, weil er in den Iran will, um dort ein deutsches Restaurant zu eröffnen – sein ultimativer Traum. Ihm ist klar, dass er die Landessprache beherrschen muss, um in einem fremden Land zu überleben und eine Existenz aufzubauen. Er muss sich einfügen und anpassen, sich integrieren. Und er muss dafür sorgen, dass sein Akzent verschwindet.

Ihr Film erzählt von einer komplizierten und eigentlich widerwärtigen Beziehung, die auf beiderseitigem Interesse basiert, aber manchmal an seelische Grundfesten geht: Was wollten Sie uns durch diese Beziehung sagen?

Ich versuche zu zeigen, dass wir alle menschliche Wesen sind, dass wir alle fähig sind zu lieben, aber gleichzeitig auch fähig sind, die abscheulichsten Dinge zu vollbringen, grausame Handlungen voller Hass begehen. Es gibt nicht nur das absolut Gute und das absolut Böse. Da ist immer irgendetwas in der Mitte. Ich versuche in all meinen Filmen, meine Charaktere aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten und ihre unterschiedlichen Schattenseiten zu sehen. Ich wollte Kochs langsamen Wandel zeigen: Er ist in der Lage, Gefühle durch die erfundene Farsi-Sprache auszudrücken, die er nicht in Deutsch artikulieren kann, Tabuthemen. Es ist kein Zufall, dass er auf Gilles Frage „Wer bist du?“ in falschem Farsi nicht antwortet „Hauptsturmführer Koch“, sondern „Klaus Koch“. Es faszinierte mich, die Entwicklung dieser Person nachzuzeichnen, seine wachsende Menschlichkeit und dass gerade die fremde Sprache ihn befähigt, bestimmte Seiten von sich zu entdecken und zu zeigen, die er in der eigenen nicht erläutern kann.

Sie schaffen es, dass der Zuschauer sich zeitweise in alle Figuren des Films einfühlen kann, besonders den Persisch lernenden Hauptsturmführer: Wie haben Sie das zustande gebracht, und war das sehr wichtig für Sie?

Auf jeden Fall war dieses Element der Ambivalenz sehr wichtig für mich. Ich versuche immer, Charaktere ins Leben zu rufen, die unserer Empathie würdig sind. Wie ich das schaffe? Ich denke, durch eine Form der Humanisierung. Es gibt Filme, die zeigen Nazis wie Roboter oder Automaten, die schreien, herumrennen, entsetzliche und zutiefst böse Gestalten, sehr eindimensionale Figuren. Wir sollten aber nicht vergessen, dass sie auch Menschen sind. Sie wurden geliebt, sie waren eifersüchtig, sie hatten Angst – sie verfügten über alle menschlichen Qualitäten. Und das macht das ganze Spektrum ihrer grausamen Taten noch entsetzlicher.

Viele Filme wurden schon über den Zweiten Weltkrieg gedreht: Gab es einen speziellen Film oder Regisseur, von dem Sie sich inspiriert fühlten? Und wie wollten Sie diesen Film von anderen über die gleiche Zeit abgrenzen?

Nein, ich habe mich nicht von anderen Filmen oder anderen Regisseuren inspirieren lassen. Es handelt sich um eine einzigartige Geschichte, Basis für ein einzigartiges Drehbuch, das ich hoffentlich in einzigartiger Weise umgesetzt habe.

Bei der Betrachtung Ihres Films, kommt mir Victor Klemperers Buch „Die Sprache des Dritten Reichs“ in den Sinn. War der derzeitige politische Diskurs eine Inspiration für diese Geschichte?

Nein. Das Buch war mir total unbekannt. Inzwischen habe ich es gelesen und es hat mich fasziniert.

Quelle: Alamodefilm

Print Friendly, PDF & Email