Fragen an die Darstellerinnen – Fragen aus dem Publikum GEFANGEN IM NETZ (2020)


Warum haben Sie beschlossen, in GEFANGEN IM NETZ mitzuwirken?

Tereza: Bevor ich mit dem Inhalt unseres Films konfrontiert wurde, hatte ich keine Ahnung, wie groß das Thema Kindesmissbrauch im Internet war. Ich denke, das geht den meisten Leuten so. Ich begegnete dem selbst, als ich 12 Jahre war und dachte, ich wäre die Ausnahme, dass das Internet heutzutage mehr geschützt ist. Aber das Gegenteil ist wahr. Deshalb habe ich keine Sekunde gezögert mitzumachen. Ich glaube, es ist ein Thema, das diskutiert und behandelt werden muss.

Anežka: Ich kam zum Casting, weil ich Filmschauspiel ausprobieren wollte. Die einzige Bedingung war kindliches Aussehen, womit ich lange zu kämpfen hatte. Während meiner gesamten Pubertät fragte mich jeder, warum ich so klein war, und ich hatte keine Antwort darauf. Ich dachte, dass es toll wäre, beim Dreh meine Spätentwicklung irgendwie sinnvoll einzusetzen. Aber ich hatte keine Ahnung, was der ganze Film beinhalten würde. Ich finde es enorm befriedigend, wenn ich das Kino voller Kinder sehe und ich mit ihnen diskutieren oder sogar helfen kann.

Würden Sie wieder in das Projekt einsteigen?

Sabina: Ja, weil über dieses Thema mehr gesprochen werden sollte. Es ist wirklich wichtig, dass 12-jährige Kids realisieren, dass etwas, das sie online posten, für die Ewigkeit dort bleibt. Tereza: Es war die härteste Arbeit, die ich je in meinem Leben geleistet habe. Jedes Mal, wenn ich dachte, schlimmer kann es nicht werden, passierte am nächsten Tag etwas, das mir zeigte, dass ich falsch lag. Aber gleichzeitig war es auch die schönste Arbeit, die ich je getan habe. Es gab mir unglaublich viel und zeigte mir, dass man tiefe Befriedigung findet, wenn man etwas Wertvolles tut. Deshalb ja! Sofort.

Anežka: Ich würde die Erfahrung nicht gern nochmal machen. Aber definitiv würde ich meine Entscheidung beim Casting nicht ändern.

Was war der härteste Moment des Drehs?

Sabina: Für mich war es wahrscheinlich die erste Skype-Sitzung, als ich keine Ahnung hatte, wie das ausgehen würde.

Tereza: Das ist eine wirklich schwierige Frage, weil mir jedes Mal, wenn ich sie beantworte, etwas anderes dazu einfällt. Es gab so viele harte Momente, und jeder war auf ganz unterschiedliche Art tough. Zum Beispiel als einer der Täter gefakte, mit Photoshop bearbeitete Nacktfotos von mir im Netz veröffentlichte und mich damit zu erpressen begann. In dem Moment war mir überhaupt nicht klar, dass es ja gar nicht mein echter Körper war, dass das nicht ich war. Oder als ich fast aus der Rolle gefallen bin, weil ich mit einem Täter skypte, der so absurd lächerliche Sachen sagte, dass ich lachen musste. Auch, wenn es wirklich ekelhaft war.

Anežka: Lange Zeit hab ich nichts wirklich Schreckliches erlebt – bis die Belastungsgrenze erreicht war: Es war keine konkrete Erfahrung, mehr ein Moment, als mir bewusst wurde, dass sexueller Kindesmissbrauch eigentlich überall vorkam. Während einer Woche tauchten plötzlich Fälle in den Medien auf, die vorher vertuscht worden waren. Eine Dokumentation mit den Zeugenaussagen erwachsener Männer über den Missbrauch durch Michael Jackson kam heraus, und gleichzeitig gab es total schockierende Aussagen von Mädchen, die in der Kirche missbraucht wurden. An dem Punkt verfiel ich in totale Verzweiflung. Ich hatte das Gefühl, dass alle Männer Kinderschänder sind und alle Kinder missbraucht werden.

Haben Sie Empfehlungen für Kinder oder Eltern, die den Film anschauen?

Tereza: Es ist wichtig, dass Kinder wissen, sie haben die absolute Unterstützung ihrer Eltern und sie diese auch wirklich haben; dass sie sich ihnen in jeder Hinsicht anvertrauen können und nichts unterdrücken müssen. Wie man im Film sieht, ist es sehr leicht, wie ich selbst erfahren habe, in so etwas hineinzugeraten. Wir haben keinen einzigen Täter von uns aus kontaktiert. Wenn wir kommunizierten, folgten wir strikten Regeln, was wir schreiben und sagen können – und sogar da gerieten wir in unglaubliche Situationen. Für Eltern ist es wichtig, sich bewusst zu sein, wie und wo ihr Kind in den sozialen Medien unterwegs ist. Ich spreche nicht von strikter Kontrolle, mehr von so etwas wie Partnerschaft. Sich zu interessieren, was das Kind online gerne macht, vielleicht selbst einen Account in sozialen Medien anlegen. Kommunikation und Vertrauen sind extrem wichtig. Kinder, insbesondere in diesem Alter, haben eine Million Fragen über ihren Körper und Sexualität. Es ist weit besser, offen über so etwas mit jemandem zu sprechen, den man gut kennt und für den das kein Tabu ist. Es könnte sonst bei irgendeinem Täter landen, der darüber mit ihnen offen spricht. Das Internet ist kein fieser Ort voller Tücken und Fallen, aber es ist wichtig, einige Sicherheitsregeln zu befolgen.

Anežka: Genau. Kommunikation ist die Hauptsache.

Sabina: Ich würde empfehlen, dass Eltern mit ihren Kindern in den Film gehen. Danach können sie darüber diskutieren. Aber ich würde nicht wollen, dass Eltern ihre Kinder aus den sozialen Netzwerken verbannen oder ihnen erzählen, das Internet sei ein böser Ort. Denn das ist nicht wahr. Das Internet ist ein wunderbarer Ort – sehr inspirierend.

Die häufigsten Fragen aus dem Publikum

Warum haben Sie beim Casting keinen jungen Mann ausgewählt, sondern sich für drei Mädchen entschieden?

Weil wir keine erwachsenen Darsteller fanden, die wie 12-jährige Jungs aussahen.

Wie kam es zu diesem ungewöhnlichen filmischen Experiment?

Im Herbst 2017 hat ein Mobilfunkunternehmen den Regisseur Vít Klusák mit dem Dreh eines viralen Videos beauftragt, das die Aufmerksamkeit auf den hohen Anstieg der Missbrauchszahlen von Kindern im tschechischen Internet richten sollte. Vít Klusák brachte seine Kollegin Barbora Chalupová mit an Bord des Projekts und sie begannen ihre Recherche mit einem Experiment: Sie schufen ein glaubwürdig aussehendes Fake-Profil eines 12-jährigen Mädchens namens „Týnka“ auf der Website lide.cz und wollten sehen, ob etwas geschah. Ja, es geschah etwas: Innerhalb von fünf Stunden wurde das Mädchen von 83 Männern im Alter von 23 bis 63 kontaktiert – mit einer überwältigenden Mehrheit expliziter Vorschläge zu gegenseitiger Masturbation im Video Chat. Viele schickten Fotos ihrer erigierten Penisse ohne Vorwarnung, während andere links zu verschiedenen Pornos schickten, inklusive Tierpornos. Am selben Abend noch masturbierten vier Männer vor ihrer Web-Kamera, ohne dass sich “Týnuška” selbst zeigte… Innerhalb weniger Tage entschieden Klusák and Chalupová, dass dieses Experiment eher eine unabhängige Dokumentation in Spielfilmlänge verdiente als ein kurzes virales Video.

In welchen sozialen Netzwerken waren Sie am aktivsten? Welches ist das Schlimmste?

Es ist nicht möglich zu sagen, welches das Schlimmste ist. Die meisten Täter entwickeln die gleichen Taktiken in allen sozialen Netzwerken und Chatforen. Während des Drehs nutzten wir u.a. Facebook, Instagram, Snapchat und die tschechische Chat-Seite lide.cz. Interessanterweise wurde TikTok extrem populär während der Schnittphase und dem Kinostart des Films in Tschechien. Polizisten und Experten erzählen uns, dass die Präsenz der Täter in diesem sozialen Netzwerk über dem Durchschnitt liegt.

Wie kam es, dass Tereza Těžká im Café ihr Getränk über Sneeky, einen der Männer beim Live-Treffen, ausschüttete? Ist sie da aus ihrer Rolle gefallen?

Sneeky war einer der schlimmsten Täter, denen wir während des Drehs begegnet sind. Nach dem Dreh hat Tereza einen Monat mit ihm geschrieben, um sein Vertrauen zu gewinnen. Es folgte ein Treffen. In dem Moment, als sie das Getränk über ihn schüttete, ist sie wirklich aus der Rolle gefallen. Jedoch hatten die beiden Regisseur*innen sie dazu ermuntert: Wenn sie etwas zu sagen hätte, sollte sie ihrem Herzen Luft machen. Natürlich hat der Undercover-Security-Mann am Nebentisch das gesamte Gespräch mitgehört.

Wie haben Sie die Sicherheit der Mädchen gewährleistet, und wie tun sie das immer noch?

Natürlich haben wir uns um deren Sicherheit gekümmert und tun es noch. Uns wurde allerdings geraten, keinerlei Details dazu preiszugeben.

Was passierte mit den Tätern? Erwartet sie ein Gerichtsverfahren?

Die letzte Information, die wir bekamen, ist, dass 50 Täter aus dem Film beobachtet und strafrechtlich verfolgt wurden. Eine Anzahl von Urteilen wurde verhängt, in der Mehrzahl der Fälle zur Bewährung ausgesetzt.

Wie nah sehen Sie den Dokumentarfilm GEFANGEN IM NETZ an der Realität in Deutschland?

Es entspricht absolut der Realität in Deutschland. Das ist hier überhaupt nicht anders als in Tschechien. Wir waren vor 10 Jahren beteiligt an einem sehr kritisierten Format TATORT INTERNET (Anm.: TV-Serie, RTL II) mit gleichem Inhalt. Die Lage hat sich seitdem nicht verbessert. Sondern im Gegenteil: Vor 10 Jahren waren Online-Spiele noch nicht so begehrt wie heute; es hatte noch nicht gefühlt jedes Kind spätestens ab 11 Jahren ein Smartphone in der Hosentasche. D.h. die Situation hat sich verschärft. Entsprechend ist in Deutschland erst kürzlich der Cybergrooming-Paragraph ergänzt worden. Cybergrooming ist ein alltägliches Risiko für Kinder und Jugendliche, die sich online bewegen.

Cybergrooming: Ist nur der Begriff in der Gesellschaft noch nicht allgemein bekannt? Oder gibt es auch für den Tatbestand selbst noch kein Bewusstsein bei den Erwachsenen, Eltern, LehrerInnen, in den Schulen?

Leider finde ich die Unterscheidung zwischen Grooming und Cybergrooming tatsächlich nicht besonders glücklich. Der Grooming-Prozess beschreibt die gezielte, strategisch geschickte Manipulation eines Kindes durch eine erwachsene Person hin zu sexuellen Handlungen. Täter und Täterinnen nutzen dafür immer alle ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Das bedeutet: Heute finden Sie, glaube ich, vielleicht maximal noch 20% der Fälle von sexueller Gewalt, ohne dass digitale Medien in irgendeiner Form eine Rolle gespielt haben. Das Smartphone ist das ultimative Tatmittel für Täter und Täterinnen. Das Smartphone und die digitalen Kanäle erlauben ihnen zu jeder Zeit, an jedem Ort und vor allem vollkommen unbeobachtet den direkten – und, wenn Sie so wollen, auch sehr körpernahen Kontakt – zum Kind. Das haben Sie nirgendwo anders. Wir kennen Fälle, in denen selbst in Familien sexuelle Gewalt auch digital ausgeübt wird, weil die TäterInnen den Kindern über WhatsApp drohen. Ich würde jetzt gar nicht so sehr wollen, dass jede(r) unbedingt den Begriff CYBERGROOMING kennt. Was ich möchte, ist, dass Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte, SchulsozialarbeiterInnen und psychosoziale VersorgerInnen usw. wissen, dass TäterInnen digitale Wege suchen, um mit Kindern in Kontakt zu kommen. Sie nutzen ihren Vorteil auf unangenehme Art und Weise. Mir ist ganz besonders wichtig, dass dann nicht – und das passiert leider immer noch – eine automatische Schuldumkehr stattfindet. Das argumentieren wir dann so: die Kinder sind ja so gute Anwender und die haben ja auch siebenmal das Internet-ABC und achtmal den Medienkompetenz- Workshop X und Y gemacht, da müssen sie es doch wirklich besser wissen. Und fragen dann empört: „Wie konntest du nur?!“ Damit stellen wir die Kinder in eine Ecke, in die sie nicht gehören, und entlasten zugleich die Täter und Täterinnen in ihrer Verantwortung. Das finde ich sehr frappierend. Verantwortlich für die Tat ist der Täter oder die Täterin. Punkt.

Interview mit Julia von Weiler

Vorstand von Innocence in danger e.V. 

Könnten Sie Zahlen nennen, wie viele Fälle von Cybergrooming in Deutschland im letzten Jahr erfasst worden sind?

Das Problem ist, wir wissen gar nicht, wie viele Fälle von Cybergrooming es tatsächlich gibt. Wir wissen ehrlicherweise noch nicht mal, wie viele Fälle von Cybergrooming in der Kriminalstatistik wirklich enthalten sind. Das hat mit der Art und Weise zu tun, wie diese Statistiken geführt werden. Die Beamten und Beamtinnen müssen auf jeden Fall das schwerste Delikt eintragen. Wenn es also zu einer sexuellen Gewalthandlung gekommen ist, ist das auf jeden Fall das schwerste Delikt. Und dann können sie, wenn sie ihre Statistik ausführlich führen, auch noch digitale Anbahnung vermerken. Oft haben sie aber dafür keine Zeit. Das bedeutet, dass die Kriminalstatistik sowieso nur ein sehr ungenaues Mittel ist. Abgesehen davon, dass sich dort ohnehin nur die Fälle befinden, die zur Anzeige kommen. Wir sagen schon sehr lange – und dieser Film bestätigt das nochmal – dass wir heute, wenn es um sexuelle Gewalt gegen Kinder geht, die Möglichkeit der digitalen Kontaktaufnahme, die Möglichkeit der Produktion von Missbrauchsdarstellungen und deren Verbreitung in jedem einzelnen Fall in Betracht ziehen müssen. Wenn der Täter oder die Täterin dem Kind auf der Straße begegnet, muss er oder sie relativ viel Zeit mit dem Kind verbringen, um relativ viele Informationen herauszukriegen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie dabei beobachtet wird, ist relativ hoch. Im Netz hat er/sie schon vorab viele Informationen, wenn er/sie sich z.B. den Feed in einem Netzwerk angeguckt hat oder sieht, welchen Insta-Stars das Kind folgt, usw. Da hat er oder sie super Anknüpfungspunkte. Die digitale Kommunikation lädt außerdem ein, sich verletzlicher zu machen, als man ahnt. In meinen Workshops sag ich den Kindern immer: „Ihr müsst unglaublich lange super misstrauisch bleiben.“ Das allerdings ist eigentlich eine Botschaft, die man nicht senden möchte. Sexuelle Gewalt an Kindern ist eine Beziehungstat. 80 – 90% aller Fälle finden im sozialen Nahfeld des Kindes statt: Familie, Freundeskreis, Schule, Sport, Nachbarschaft. Dazu gehört natürlich längst auch das digitale soziale Nahfeld: die Insta-Friends, die Online-Buddies, mit denen ich dort spiele, usw. Das bedeutet, das soziale Nahfeld war noch nie so groß wie heute. Es ist überall auf der Welt verteilt. Gleichzeitig war es noch nie so nah wie heute, weil es einfach durch das Gerät die ganze Zeit bei mir ist. Die digitalen Medien haben die Dynamik und das Phänomen sexueller Gewalt fundamental verändert. Für immer. Über die Webcam findet der Täter immer den direkten ungestörten Kontakt zum Kind – auch in seinem sichersten Hafen, dem Kinderzimmer oder Zuhause.

Was wünschen Sie sich? Von den Eltern, von Schulen, von der Politik, von den Institutionen, die mit Cybergrooming zu tun haben, und den Firmen, die das Internet maßgeblich mitgestalten…?

Ich wünsche mir viel mehr verbindliche Verantwortung seitens der Anbieter. Da ist noch ganz viel Luft nach 22 oben. Gleichzeitig verstehe ich aber auch, wenn Anbieter sagen, wir brauchen auch gesetzliche Sicherheit. Also wünsche ich mir eine gesetzlich verankerte verbindliche Verantwortung von Anbietern. Meine Forderung an Politik ist dementsprechend, nicht immer nur an die „schwächsten Glieder“ in der Kette zu gehen, also Kinder und Jugendliche fit zu machen und dann deren Eltern. Aber die starken Anbieter bleiben außen vor. Ich wünsche mir z.B. als herrliche Utopie: Die Anbieter müssten 1% ihres Umsatzes oder ihres Gewinns in eine Kasse geben, aus der man in erster Linie Krisenintervention, Beratung und/oder Therapien und Krisen-Interventionen für Fälle finanziert, die digital angebahnt wurden, und aus der sich dann auch Prävention finanziert. Grundsätzlich fordere ich tatsächlich die Politik auf, diese Anbieter wirklich in die Verantwortung und in die Pflicht zu nehmen. Außerdem wünsche ich mir, dass alle Menschen, die professionell mit Kindern und Jugendlichen arbeiten und leben, also auch stationäre Jugendhilfe, aber vor allem Lehrkräfte, Sozialarbeiter, auch (Leistungs)Sportzentren oder Ehrenamtliche dieses Thema auf dem Schirm haben: Sexuelle Gewalt an Kindern. Inklusive der digitalen Dimensionen. Und ganz grundsätzlich wünsche ich mir, dass wir als Gesellschaft lernen, selbstverständlicher über diese Themen zu reden. Und damit meine ich auch, dass wir lernen, im Alltag couragierter zu sein, wenn uns etwas auffällt. Zum Beispiel, wenn wir es verstörend finden wie sich eine erwachsene Person einem Kind nähert, auch zu äußern, wenn man etwas bemerkt hat und seltsam findet. Die Tatsache, dass uns das oft so schwerfällt, weil wir da selbst schon so eine eigentümliche Scham entwickeln, zeigt uns, wie viel schwerer es für die betroffenen Kinder sein muss. Die empfinden vor allem Scham und Schuld, so dass sie das alles am liebsten nur wegklicken würden, d.h. für sie ungeschehen machen und nicht darüber sprechen wollen. Wir könnten ja eigentlich ganz viele Lehren daraus ziehen, was wir schon wissen seit 10, 15 Jahren: Ok, die Welt ist digitaler. Was bedeutet das? Wie intensiv muss ich mit Kindern schon im Kindergarten zu der Frage des Selbstbewusstseins arbeiten? Digitale Bildung bedeutet nicht, alles immer digital einüben zu müssen. Gerade, wenn es um sexuelle Gewalt geht, geht es – ganz analog – um die Frage der Selbstbehauptung, der Selbstsicherheit, des Respekts und der Achtsamkeit anderen gegenüber.

Von GEFANGEN IM NETZ gibt es zwei Fassungen – eine lange Fassung, die im Kino laufen wird, und eine gekürzte Fassung, die speziell für Kinder und Jugendliche geschnitten wurde und Schulen, Organisationen, Verbänden etc. zur Verfügung stehen wird. Kann das zur Aufklärung beitragen?

Das Tolle an dem Film ist zu sehen, wie strategisch die Täter vorgehen, was da passiert, was sie alles in Kauf nehmen, warum es für Kinder und Jugendliche eben oft so schwer zu erkennen ist. Und trotzdem kann gerade das gleichzeitig zu einer Abwehrbewegung führen, dass Kinder und Jugendliche sagen: „Ne, das würde mir ja nicht passieren! Ich bin ja nicht so doof wie die.“ Das hat damit zu tun, dass sie natürlich ihr eigenes, mögliches 23 Risikoverhalten abwehren müssen, um sich sicher zu fühlen. D.h., wenn der Film nicht allein steht, kann er sehr gut aufklären. Er sollte eingebettet sein in eine Unterhaltung, die im Idealfall nicht von einem Lehrer oder einer Lehrerin moderiert wird, sondern von jemandem außerhalb, der gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen und Lehrkräften diskutiert. Grundsätzlich finde ich, alles was dazu beiträgt, dass Kinder und Jugendliche über das Thema sprechen, ist gut.

CH mit JvW 17.09.2020 24

Unter CYBERGROOMING versteht man die Vorbereitung und Anbahnung von Missbrauchshandlungen mittels digitaler Medien.

Dazu zählen die Identifizierung potenzieller Opfer, das Gewinnen ihres Vertrauens durch besondere Aufmerksamkeit, das Verstricken in Abhängigkeit, Bestechung, Zwang sowie die Gewöhnung an sexuell gefärbte Kommunikation. Cybergrooming ist strafbar (§ 176 Absatz 4 Nr. 3 StGB). 97 % der Jugendlichen unter 18 Jahren nutzen das Internet. 62 % der 14-Jährigen sind dabei von Erwachsenen unbeaufsichtigt. Fast jede/r zweite Jugendliche wird im Netz „angemacht“ (laut Innocence in Danger e.V.). Der Kriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger spricht sogar davon, dass annähernd jedes Kind im Netz bereits einmal mit einem Cybergroomer konfrontiert war. Laut EU Kids Online sind in Deutschland 34 % der befragten Mädchen und 23 % der Jungen online bereits mit intimen oder anzüglichen Fragen konfrontiert worden, die sie nicht beantworten wollten (Studie „Online-Erfahrungen von 9- bis 17-Jährigen, Ergebnisse der EU Kids Online-Befragung in Deutschland 2019). 98 % der Opfer von Livestream-Missbrauch, wie Cybergrooming auch genannt wird, sind 13 Jahre oder jünger. 96 % von ihnen sind dabei alleine in häuslicher Umgebung zu sehen. Aktuelle Erhebungen sehen inzwischen auch eine Verbreitung von Cybergrooming bis ins Kindergartenalter. Jugendliche, die mit pornografischen Abbildungen schon mindestens einmal konfrontiert waren, berichteten von mehr emotionalen Problemen als Jugendliche ohne Konfrontationserfahrungen (Quelle: Sexualisierte Gewalt in den digitalen Medien. 2018.) Nur 3-5 % der Täter*innen im Netz sind Pädophile (Zitat aus dem Film). 728 000

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