Interview mit Regisseurin Barbora Chalupová GEFANGEN IM NETZ (2020)


Barbora Chalupová gehört zur Generation aufstrebender junger tschechischer Regisseur*innen. Ihre Laufbahn startete sie mit ihrem Film THANK YOU, MELONIK (2014), der auf der Short List für einen Magnesia Award für den besten Studierendenfilm stand und später u.a. auf dem Edinburgh International Film Festival gezeigt wurde. Ihre Folgearbeit ARMS READY (2016) war für den Pavel Koutecký Preis nominiert und stand im Wettbewerb auf dem One World Film Festival in Prag und dem Jihlava International Documentary Festival. In A THEORY OF EQUALITY (2017) begleitete die Regisseurin die aktuelle Debatte um Geschlechter-Gleichheit in Tschechien. Der Film wurde in der Czech Journal Reihe des tschechischen Fernsehens präsentiert. Ihr Experimentalfilm ON THE EDGE (2018) befasste sich mit der tschechischen Flat-Earth-Bewegung, die behauptet, die Erde sei eine Scheibe, und landete erneut auf der Short List des besten Studierendenfilms für den Magnesia Award. 2019 brachte Barbora Chalupová die Dokumentation REAL(E)STATE heraus, die die aktuelle tschechische Immobilienkrise untersuchte und auf dem One World Film Festival Prag Premiere feierte. Während sie an GEFANGEN IM NETZ arbeitete, stellte die Regisseurin den Dokumentarfilm A NEW OATH fertig, ein Film über die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen.  

Können Sie sich an den Moment erinnern, an dem Sie sich zur Mitarbeit an GEFANGEN IM NETZ entschlossen?

Als ich zum ersten Mal die Statistiken zur Sicherheit von Kindern im Internet sah, war ich ehrlich bestürzt. Das waren alarmierende Zahlen, die ich mir wirklich nicht vorstellen konnte und wollte. Aber das war nichts im Vergleich zu dem unbeschreiblichen Schock, als wir – mit der Absicht, den Sachverhalt tiefergehend zu verstehen – die Identität eines unschuldigen 12-jährigen Mädchens ohne jede Flirtabsicht, „Týnka“, erfanden, die eines Nachmittags aus Langeweile ein Profil in einem sozialen Netzwerk erstellte. Innerhalb von fünf Stunden kontaktierten insgesamt 83 Männer im Alter von 23 bis 63 Jahren „Týnkas“ erfundenes Profil. Die überwältigende Mehrheit kam nach ein paar harmlosen Eröffnungsfloskeln schnell zu expliziten sexuellen Anspielungen und Absichten. Das beinhaltete „Angebote“ zu gemeinsamer Masturbation über Skype; zwei der Männer kamen sofort zur Sache. Aber der Moment, nach dem Sie mich fragten, tauchte ein wenig später auf: Ich wollte Vít anrufen, um zu besprechen, was wir am Vortag erlebt hatten, und er erzählte mir eine Geschichte, die für mich ausschlaggebend war für mein Mitwirken an dem Film. Er erzählte mir, dass ein namentlich nicht genannter Mann in einer hohen Position sich das Smartphone seiner Tochter ausgeliehen hatte. Sie hatte darauf irgendetwas gespielt, musste aber nun zum Nachmittagsunterricht. Als sie gegangen war, nahm er das Telefon und stellte fest, dass sie nicht aus ihrem Messenger abgemeldet war. Er schaute hinein und entdeckte mit Schrecken, dass seine Tochter ein sehr intimes Gespräch – ergänzt durch Nacktfotos von sich – mit einem Mann seines Alters führte. Als seine Tochter heimkam, lasen er und seine Frau ihr die Leviten. Und sie gestand, dass die Mädchen in ihrer Klasse in diesem Stil mit Männern schrieben und sie die einzige war, die das nicht tat. Deshalb erfand sie einen solchen Chatpartner. Das war der Moment. Wenn es so eine komplexe und sozial bedenkliche Situation gab, dass Kinder selbst „dirty stuff“ erfanden, um in ihrer Gruppe anerkannt zu sein, dann musste ich bei diesem Filmprojekt mitmachen.

Warum entwickelten Sie für dieses filmische Experiment Fake-Profile von angeblich Minderjährigen?

Wir standen vor der Herausforderung, ein Phänomen dokumentieren zu wollen, das hinter verschlossenen Kinderzimmertüren stattfand, und so genau wie möglich all die Tricks und Manipulationen zeigen, die Täter in ihrer Kommunikation mit Kindern entwickeln. Wir waren uns der ethischen Fragwürdigkeit unseres Experiments bewusst. Deshalb haben wir von Beginn an Expert*innen konsultiert: Psychologen, eine Sexologin, einen Anwalt und die Polizei. Zeitgleich beschlossen wir, weil wir unseren Zuschauer*innen gegenüber fair sein wollten, dass wir das gesamte Experiment durchführen würden, ohne unsere eigenen Zweifel zu verstecken oder auch Situationen, die nicht funktionierten. Wir glaubten, wenn wir den Film etwa als eine Sammlung von

Was hat Sie während des Drehs am meisten überrascht?

Das einzige, was mich immer wieder überraschte, war das Tempo, mit dem die Täter unsere Mädchen kontaktierten. Nach ein paar wenigen Eröffnungsfloskeln kamen sie sofort zur Sache: zu expliziten sexuellen Angeboten. Und natürlich die Fülle. Die Schauspielerinnen hatten kaum Zeit zu antworten, geschweige denn all die Chat-Anfragen zu bedienen.

Was war für Sie persönlich das Härteste in dem ganzen Prozess?

Für mich persönlich war es die Arbeit im Schneideraum. Dort wieder im Detail durch alles zu gehen, was im Studio passiert war und bei den Treffen von Angesicht zu Angesicht, das war frustrierend für mich. Als das Regieführen hinter mir lag, war es Zeit, das aufgezeichnete Material anzuschauen, in Ruhe und mit einiger Distanz. Ehrlich, da gibt es einiges, das ich nie wieder in meinem Leben sehen möchte. Natürlich war die vor uns liegende Aufgabe schwer. Wir mussten das rechte Maß finden, wie viel wir von diesem krassen Zeug in den Film schnitten, so dass er zwar die Realität abbildete, aber auch anschaubar blieb.

Hat die Arbeit an dem Film Ihren Blick auf das Thema verändert?

Ich denke nicht, dass sich meine Haltung zum Thema verändert hat. Ich sehe es nicht schwarz-weiß im Sinne von Unschuldslämmer und Monstern. Aber ich muss gestehen, dass mich das wirklich überraschte. Ich wusste, dass es das Phänomen Cybergrooming seit wenigstens zehn Jahren gibt. Aber in den vergangenen Jahren begannen Mädchen und Jungen sich bewusst zu werden, welchen Marktwert ihre nackten Körper haben und sie diese ohne Zögern im Internet für Anerkennung oder für ein neues Handy verkaufen. Interviews oder als Reportage konzipierten, niemand in der Lage wäre, sich all diese Sachen vorzustellen, die Kinder heute durchmachen.

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