PETITE MAMAN – ALS WIR KINDER WAREN Regie: Céline Sciamma (Frankreich) ein Film wie ein lebendiges Stillleben, natürlich, einfühlsam und bescheiden


Kinostart ab 17. März 2022: Die achtjährige Nelly fährt mit ihren Eltern in das Haus der geliebten, gerade verstorbenen Großmutter, um es auszuräumen. Sie stöbert in den alten Spielsachen und Büchern ihrer Mutter Marion, neugierig auf deren Kindheit. Doch Marion will sich der Vergangenheit nicht stellen, sie reist ab und lässt Mann und Tochter allein zurück. Während ihr Vater am Haus arbeitet, streift Nelly durch die Wälder. Dort trifft sie auf ein Mädchen, das ihr zum verwechseln ähnlich sieht. Das Mädchen heißt Marion. Schnell entwickeln die beiden eine innige Freundschaft und teilen ihre tiefsten Geheimnisse miteinander.

Filmposter

Nellys Mutter Marion (Nina Meurisse) hat sich bereits darum gekümmert, dass das wenige Hab und Gut der verstorbenen Großmutter ausgeräumt und in einen Lieferwagen verladen wird. Mutter und Tochter folgen dem Wagen von Nellys Vater (Stéphane Varupenne), eine lange Fahrt auf der Landstraße, vorbei an Wiesen und Wäldern. Sie sind schweigsam, Nelly vertreibt sich die Zeit. Das Mädchen umarmt seine Mutter. Es ist Nacht, als sie an ihrem Ziel ankommen, dem alten Haus der Großmutter mitten in einem Wald, wo Marion aufgewachsen ist. Auch dieses Anwesen soll leergeräumt werden.

Neugierig sieht sich Nelly im Haus um und schläft dann im alten Bett ihrer Mutter. Beim Frühstück fragt Nelly ihre Mutter, wo sich ihre Hütte befunden habe, von der sie ihr erzählt hat. Ein bisschen in den Wald hinein, kommt die Antwort, errichtet im Quadrat, eingegrenzt von vier Bäumen. Das Mädchen macht sich auf die Suche, streift durch die Gegend, sammelt Eicheln. Das Rauschen des Windes wird eindringlicher. Am Abend zeigt Marion in ihrem Zimmer ihre alten Kinderhefte her, taucht gemeinsam mit Nelly ein in ihre Erinnerungen und ihre Vergangenheit. Nichts hat die Großmutter weggeschmissen.

Einerseits erzählt der Film etwas über das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter und über den gerade stattfindenden menschlichen Verlust. Das andere Mädchen bietet nicht nur hervorragenden Ersatz, sie hat sogar denselben Namen wie Nellys Mutter. Andererseits ist aber genauso eine intensive Vater-Tochter Beziehung mit im Spiel. Nachdem Nellys Mutter weggefahren ist, sind Vater und Tochter ganz allein in dem Haus im Wald.  Von dem anderen Mädchen bekommt Nellys Vater zunächst gar nicht viel mit, sie ist wie das Spiegelbild der einen von der anderen. Ist die neue Freundin Wirklichkeit oder  nur eine Erfindung? Man kann sagen, sie wirkt wie aus dem Drehbuch, eine Art choreographische Erfindung, um der Handlung einen tieferen Sinn zu geben, wodurch die Symmetrien des Zusammenspiels und des Zusammenhalts erst eine Chance bekommen. Dieses Bild der Einheit funktioniert. Genauso ist es aber auch eine Form der Trauerbewältigung. Beide sind unzertrennlich, die eine passt auf die andere auf. Sie sind viel unterwegs, streifen umher, unternehmen viele abenteuerliche Dinge im Wald.

Bevor sie ihr gute Nacht sagt, vertraut Marions Mutter Nelly an, dass sie sich nachts immer gefürchtet habe. Als Nelly am nächsten Morgen zum Frühstücken kommt, ist ihre Mutter bereits weggefahren. Der Vater hat ein paar Aufgaben für Nelly  zu tun, damit sie bald der überstürzt abgereisten Mutter folgen können. In einem Wandschrank im Flur findet das Kind ein Jokari, eine Holzkiste mit angebundenem Ball – ein Spiel, das man allein spielen kann. Schon nach dem vierten Schlag reißt die Schnur, der Ball landet im Wald. Eine Einladung, ihm nachzulaufen. Dort trifft Nelly auf ein etwa gleichaltriges Mädchen, das einen schweren Ast hinter sich herzieht, die sie auffordert, ihr zu helfen. Das Mädchen ist damit beschäftigt, eine Hütte zu bauen, begrenzt von vier Bäumen. Das Mädchen nennt sich Marion (Gabrielle Sanz). Dann beginnt es zu regnen, die beiden Mädchen laufen zurück zum Haus, wo sich Marion wie Zuhause fühlt. Oder mehr noch: Zuhause ist. Stilles Einverständnis herrscht zwischen den Mädchen. Marion macht Kakao. Nelly erzählt, dass ihre Großmutter gestorben sei.

Zur Filmwebsite:  Petite Maman – Als wir Kinder waren – Alamode Filmverleih

 

Die Idee zum Film

Schon während Céline Sciamma am Drehbuch zu PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN arbeitete, kam ihr die Grundidee zu diesem Film. Innerhalb weniger Wochen entwickelte sich diese sehr klare, einfache Idee immer weiter, verfolgte sie bis in ihre Träume. Bis sie nicht mehr anders konnte und mit der Arbeit am Drehbuch begann. „Der Film basiert auf einer sehr einfachen Idee: die Begegnung und Freundschaft zwischen einem kleinen Mädchen und seiner Mutter als Kind. Ich hatte den Eindruck, dass so eine Art magische Zusammenkunft etwas ist, das jeden von uns ansprechen könnte“, sagt Sciamma und fügt hinzu: „Es ist eine intime Interpretation, eine Fantasie, mit der man die Beziehung zu den eigenen Eltern neu durchspielen und erträumen kann.“

Zeitreise und magischer Realismus

Der Film ist eine intime Zeitreise, die nicht futuristisch angelegt ist. Vielmehr nutzt der Film auf ganz erdverbundene Weise das Mittel des magischen Realismus, um seine Geschichte erzählen zu können und funktionieren zu lassen. Er spielt weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft – er lässt sich zeitlich nicht verorten. Tatsächlich ist es Sciamma gelungen, einen Raum zu schaffen, der vor allem auf einem basiert: einer intimen, gemeinsam imaginierten Zeit, deren Räumlichkeit und Zeitlichkeit vom Film als Medium und Technik selbst bestimmt wird. Sciamma sagt dazu: „Es ist der Schnitt, der eine Teleportation einleitet, die die Charaktere immer wieder in verschiedenen Zeiten zusammenbringt. 

Spielend und verspielt arbeitet der Film mit den verschiedenen Zeitebenen, indem die Kinder sich im Wald treffen. Und je nachdem, welchen Weg sie gehen, in einer imaginierten Jetzt-Zeit oder einer imaginierten Vergangenheit landen, ohne dass die Zeitreise selbst jemals zu einem großen Ereignis stilisiert wird.

Studiodreh

Gedreht wurde gänzlich im Studio. Das war von Anfang an geplant. Die speziellen Set-Designs und die Idee des Zeitreisens machten ein präzises Arbeiten in einem jederzeit kontrollierbaren Umfeld unabdingbar. Ein Studiofilm hat laut Sciamma auch seine ganz eigene Magie, die für sie im filmischen Prozess relevant war. „Ich hatte das Gefühl, dass ein Studiodreh sich als ideale Spielwiese für diesen Film erweisen würde. Die Logik des Studios verstärkte die Vorstellung von einem einfachen, aber sehr spielerischen und selbstbewussten Kino. Es ist seltsam, dass ein Film in eine Schachtel passt, in die man einfach durch eine Tür hineintritt, und
schon ist man auf einer Zeitreise.“ Die Pandemie und der zweite Lockdown machten den Studiodreh zu einer zusätzlichen Herausforderung. Unter strengen Hygieneregeln und mit einer kleinen Crew drehte das Team völlig von der Außenwelt abgeschnitten.

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