Was wäre wenn – Ungebaute Architektur in der Schweiz Ausstellung SAM Basel vom 25. November 2023 bis 05. Mai 2024 verlängert


Poster, The Competition, 2013

Wenige Länder geben ihrer Bevölkerung ein derart weitreichendes demokratisches Mitbestimmungsrecht bei der Umsetzung von Architektur und Städtebau wie die Schweiz. Dies hat einerseits eine weltweit einmalige demokratisch getragene Architektur hervorgebracht, andererseits aber auch zahlreiche Projekte einer möglichen Baugeschichte des Landes verhindert. Ob verloren, verneint, versackt oder verändert – es gibt eine Unzahl an Architekturentwürfen, die in der Schweiz bis heute von sich reden machen, obwohl sie nie ausgeführt wurden. Diese herbeigesehnten, aber nicht realisierten Werke sind keine Einzelschicksale, sondern gehören zum Alltag jedes noch so erfolgsverwöhnten Architekturbüros. Im Dialog mit fast zwei Dutzend Architekturinstitutionen aus allen Landesteilen präsentiert die Ausstellung ‹Was wäre wenn› eine repräsentative Auswahl aus diesem schier unendlichen Fundus. Die Summe der Projekte zeichnet das Bild einer alternativen Schweiz, in der der Mut zur Utopie größer ist als die Angst vor Fehlern.

Das Leben in der Schweiz wird von einer Vielzahl bewusster und unbewusster, rationaler und irrationaler Entscheidungen bestimmt, die sie selbst treffen oder die andere fällen. So gehen auch Architekturprojekte einen nicht-linearen Weg: Sie schreiten voran, zweigen ab, kehren um oder bleiben stehen. Tatsächlich wird viel mehr Architektur entworfen als letztendlich gebaut. Selbst in einem Land wie der Schweiz mit ihrer intensiven Bautätigkeit stellt das Gebaute also nur die Spitze des Eisbergs dar. Die Ausstellung ‹Was wäre wenn› lenkt die Aufmerksamkeit auf den schlafenden Riesen unter der Oberfläche, denn möglicherweise verkörpert er das Wesen der Architektur noch mehr als das, was materielle Gestalt annimmt.

Raum 1

Als Prolog zur eigentlichen Ausstellung nimmt Raum 1 die Form eines ‹Salon des refusés› an, in dem Projekte, die nicht zur Realisierung zugelassen wurden, ausgestellt und im Rahmen des Vermittlungsprogramms des S AM zu neuen Entwürfen geformt werden. Eine Hommage an den leidenschaftlichen Idealismus, mit dem Architektinnen und Architekten unermüdlich immer wieder neue Projekte generieren. Die Architektin Farshid Moussavi vergleicht das Wettbewerbswesen in der Architektur mit Wettkämpfen im Leistungssport: «Leistungssportarten brechen bestehende menschliche Grenzen und stellen Rekorde für körperliche Fähigkeiten auf. Ebenso sind Architekturwettbewerbe Einladungen, konzeptionelle Sprünge zu machen …» Mit ihrer Analogie verschweigt die Architektin nicht, dass architektonische Wettbewerbe, genauso wie sportliche, Entbehrungen abverlangen. Die schlaflose ‹Charrette› vor Abgabeterminen und die nervenzehrende Arbeitsleistung, die mit solchen Wettbewerben verbunden sind, scheinen vorprogrammiert und wurden Teil einer ganz eigenen Mythenbildung. Der Dokumentarfilm ‹The Competition› fängt die angespannten Abläufe von Architekturwettbewerben als unbehagliche Erzählung ein, die – Achtung Spoiler – mit dem Misserfolg aller Beteiligten endet.

Filmbeitrag (Projektion)

Der Dokumentarfilm ‹The Competition› ist ein spannungsgeladener Bericht über den Wettstreit zwischen einigen der weltweit bekanntesten Architekt*innen um den Zuschlag für das zukünftige Nationale Kunstmuseum in Andorra. Es ist der erste Architekturwettbewerb, der so unnachgiebig und detailliert dokumentiert wurde. Während der dreimonatigen Entwurfsarbeit für die verschiedenen Projekte spielte sich hinter den Kulissen ein Machtkampf zwischen den Architekt*innen und dem Bauherrn ab. Dieser hatte auch Auswirkungen auf den Grad der Transparenz, den jedes Büro dem anwesenden Dokumentarfilmteam gewährte, und schlug sich folglich auf das im Film gezeigte Material nieder.

The Competition (2013)
Frank Gehry, Jean Nouvel, Zaha Hadid, Dominique Perrault, Norman Foster* Regie: Angel Borrego Cubero Technische Leitung und Schnitt: Simon Lund Musikalische Gestaltung und Produktion: César Bartolomé Produktion: Office for Strategic Spaces (OSS) *Norman Foster verließ den Wettbewerb nach einer Änderung der Regeln, die die Produktion des Films erst ermöglichte

Re-Modell (Modellregal)

Nicht nur verlorene Wettbewerbe bringen alternative Szenarien hervor, auch in der normalen Projektentwicklung gibt es eine Vielzahl von verworfenen Entwürfen, aus denen wichtige Erkenntnisse gewonnen werden, die in nachfolgende Planungsphasen einfließen. So gesehen, wächst das Gebaute ganz wesentlich aus dem Humus des Ungebauten. Es ist wohl dieses Wissen, das die Trauer über den Verlust eines möglichen Bauwerks mit der Vorfreude auf ein neues Projekt kompensiert. In diesem ‹therapeutischen› Raum wurden ausrangierte Modelle aus Architekturbüros (dank an u.a. Salathé Architekten Basel) und Hochschulen (dank an u.a. dem Institut Architektur FHNW) gesammelt, um im Verlauf der Ausstellung zu neuen Hoffnungsträgern umgestaltet zu werden.

Bundeshauserweiterung, Mario Botta, Bern, 1991-1993 © Mario Botta Architetti

Raum 2–4

Siegeschancen bei Wettbewerben sind naturgemäß gering: Nur Eine(r) kann gewinnen. Aber auch ein ausgezeichnetes Wettbewerbsprojekt kann gestoppt werden. In der Schweiz eben auch durch weitreichende direktdemokratische Entscheidungsmöglichkeiten, etwa in Form einer Volksabstimmung. Doch selbst ein angenommenes Projekt kann in der Planungs- oder Genehmigungsphase stagnieren, in einer Schublade landen – und dort auf Wiederbelebung hoffen. Um eine möglichst repräsentative Auswahl solcher Projekte zu treffen, wurden eine Vielzahl von Schweizer Institutionen kontaktiert, in denen Architektur ausgestellt und vor allem auch diskutiert wird.  Die Aussztellungsmacher haben nachgefragt, welche unrealisierten Bauten in ihrer Region − unabhängig davon, ob sie positiv oder negativ konnotiert sind − im regelmäßigen Austausch mit ihren Besucherinnen und Veranstaltungsteilnehmern wiederholt thematisiert werden.

Jedem Projekt ist in der Ausstellung ein Tisch gewidmet auf dem Pläne, Skizzen, Modelle und weiteres Präsentationsmaterial zu sehen ist. Das S AM wird somit zu einer Art Großraumbüro in dem man chronologisch von Projekt zu Projekt wandeln kann. Dieses Format erlaubt es nicht nur eine informative, sondern auch eine emotionale Ebene zu vermitteln, die bei der Bearbeitung der Projekte zu vermuten waren: ein zerknäultes Stück Papier, Souvenirs aus der Region des Projekts, Referenzbücher, Zeitungsartikel, Objekte die den Zeitgeist vermitteln, etc. Die Besucher*innen sind eingeladen, sich, genauso wie der Kurator der Ausstellung, anhand dieser Indizien ein Bild des Geschehenen (bzw. Nicht-Geschehenen) zu machen.

Beobachtungen zur Ausstellung

Ungebaute Projekte leisten einen unerwartet hohen Beitrag zur räumlichen Kultur. Architektinnen und Architekten erkunden damit unter anderem das Limit des Machbaren, Tolerierbaren und Realisierbaren. Viele Entwürfe sind zu aufschlussreichen Experimenten geworden, deren Mut regelrecht ansteckend ist. Das durch diese Ausstellung generierte Alternativbild einer Schweiz, die es nie gegeben hat, ist von großem Wert für die Betrachtung der heutigen gebauten Schweiz und ihrer Entscheidungsprozesse. Es zeigt das Vertraut-Unvertraute und untersucht den emotionaltraumatischen Moment einer unterbrochenen Handlung. «Doch diese spannende Projektabfolge ist weder eine von Italo Calvino herbeigesehnte Stadt noch eine mögliche Blaupause für unsere herausfordernde Zukunft», erklärt Ausstellungskurator Andreas Kofler: «Auch in dieser Parallelwelt wird gerodet, abgerissen, betoniert, verbraucht, zersiedelt. Es ist ein Land, das vorwiegend von Männern geplant und gebaut wurde, die bis zu einem gewissen Punkt sogar exklusiven Zugang zur direkten Demokratie hatten. Unsere Alternativschweiz amplifiziert also nicht nur die Wünsche, Ambitionen und den Mut, sondern auch die mit der jeweiligen Zeit verbundenen Unkenntnisse und Defizite.» Aber es wäre unfair, sie pauschal zu verurteilen, denn – vereinfacht gesagt – man ist im Nachhinein immer schlauer. Diese Zeitreise soll uns hingegen dazu anregen, darüber nachzudenken, wie zukünftig auf unsere heutigen Entscheidungen und Handlungen zurückgeblickt werden wird. Unser Zeitalter des Wissens verlangt ein Handeln auf der Grundlage dieses Wissens, wobei der Schwerpunkt der Architektur eher auf der Transformation des Bestehenden als auf dem Neuen liegen sollte. So sind sie sich durchaus bewusst, dass die Projekte in dieser Ausstellung paradoxerweise die klimaneutralsten sind, die sie bisher im S AM gezeigt haben. Denn sie wurden nie gebaut.

Projektkooperation

Schweizweite Vernetzung

Um die Debatte über das Verhältnis zwischen dem Gedachten und dem Gebauten in der Architektur möglichst breit zu führen, hat das S AM für Ausstellung und Publikation die Zusammenarbeit mit einem breiten Netzwerk architekturausstellender und – diskutierender Institutionen gesucht und sie zu Ko-Kurator*innen gemacht. Dafür hat der Kurator der Ausstellung, Andreas Kofler, die baukulturelle Landschaft der Schweiz inventarisiert und schlussendlich zwanzig Institutionen (das S AM inkl.) für die Zusammenarbeit gewinnen können. Sie fragten, welche nicht-realisierten Bauwerke in ihrer Region – egal ob positiv oder negativ konnotiert – in regelmäßigen Abständen im Austausch mit ihren Besucherinnen und Veranstaltungsteilnehmern immer wieder zur Sprache kommen. Fast so, als ob sie als schwereloses Mahnmal in den Köpfen gebaut wurden. Die Auswahl gibt Einblick in die Verschiedenartigkeit der Bauvorhaben in der Schweiz, sei es in ihrer Maßstäblichkeit, ihrer Bauaufgabe oder ihrer Herausforderungen. Eine solch schweizweite Zusammenarbeit zwischen Institutionen, die Architektur vermitteln und ausstellen, findet in dieser Form erstmals statt und resultiert auch in einigen Veranstaltungen vor Ort, die Teil des Rahmenprogramms sind. Die durch das S AM vorangetriebene Bildung eines gesamtschweizerischen Netzwerks architekturvermittelnder Institutionen manifestiert sich auch über diese Kooperation hinaus in diversen Projekten. Ziel ist es, dass das Netzwerk die Protagonist*innen aus der ganzen Schweiz zusammenbringt, so dass diese ihre Synergien bündeln können und der Regionen übergreifende Diskurs ermöglicht und angeregt wird. Das S AM nimmt hier als schweizweit agierende Institution eine zentrale Rolle ein und schlägt in der Vermittlung von Themen einer nachhaltigen Baukultur eine Brücke zwischen Fachkreisen und einer breiten Öffentlichkeit. Den hier vertretenen Institutionen mit ihren vielen leidenschaftlich aktiven Vertreter*innen danken aufrichtig und fragen: “was wäre, wenn wir schon bald wieder mit einem Projekt schweizweit unterwegs sind?” Die Ausstellung entstand im Dialog mit: Architektur Forum Ostschweiz, Architekturforum Biel / Forum de l’architecture Bienne, Architekturforum im Touringhaus Solothurn, Architekturforum Obersee, Architekturforum Thun, Architekturforum Zürich, ArchitekturForumBern, Archives de la construction moderne (Acm) und Archizoom, Archivio del Moderno, BauForumZug, Das Gelbe Haus, FAR Forum d’Architectures, Forum Architektur Winterthur, Glarner Architekturforum, gta Exhibitions, Istituto Internazionale di Architettura (i2a), Fondation Pavillon Sicli, Schaffhauser Architektur Forum, Teatro dell’architettura, ZAZ Bellerive – Zentrum Architektur Zürich.

Anlässlich der Ausstellung  erscheint im Christoph Merian Verlag (CMV) eine gleichnamige, zweisprachige (Deutsch/Englisch) Publikation. Sie beinhaltet Beschreibungen und Bebilderung zu den 23 Projekten, die im Gegensatz zur Ausstellung nicht chronologisch, sondern chronothematisch gegliedert sind: Verloren, Verneint, Versackt und Verändert. Jedes Kapitel wird mit einem weiterführenden Essay zum jeweiligen Thema eingeführt. Die Autor*innen sind: der Verein Le Concours Suisse (Verloren), Marc Frochaux (Verneint), Katinka Corts (Versackt), Sibylle Wälty (Verändert). Ein Vorwort von Andreas Ruby und eine Einleitung von Andreas Kofler fassen die Publikation ein. Ein abschließendes Essay von Anneke Abhelakh geht auf die Institutionen ein, die an der Kuration der Projektauswahl mitwirkten und analysiert das Potential dieses Netzwerks.

Meldung: SAM Basel

Was wäre wenn | S AM Schweizerisches Architekturmuseum

sam-basel.org

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