Director’s Statement – Franka Potente HOME (2020)


Wie HOME entstand Vor etwa 17 Jahren fiel mir im NY Times Magazine ein doppelseitiges Foto eines blassen, rothaarigen jungen Mannes mit Tattoos auf. Er schien mich anzuschauen. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich von seiner Verletzlichkeit berührt – irgendwie war ich von der bedrohlichen Schönheit, die er ausstrahlte, hypnotisiert. Ich schnitt das Bild des damals jungen Frank Carter, Sänger der britischen Ska-Band Rattlesnake, aus und stellte es in einen Rahmen. Bald darauf landete es in einem Karton, der inzwischen verschwunden ist. Nachdem ich das Drehbuch für HOME geschrieben hatte, tauchte plötzlich Frank Carter in meinem Kopf auf – mein „Posterboy“ von vor 17 Jahren. Seine roten Haare und die vielen Tattoos haben sicherlich Marvins Aussehen inspiriert. In meinen Geschichten ging es mir immer mehr um männliche Charaktere. Ruppig, vom Leben gezeichnet, mit ihren Dämonen kämpfend. Oft aus kleinen Städten. Mit Kleinstädten und Provinzmentalität bin ich vertraut. Schließlich bin ich in einer solchen Welt aufgewachsen. Ein Teil meiner Familie lebt immer noch in einem kleinen Dorf in der Nähe von Münster in Deutschland. Jedes Mal, wenn ich nach Hause zurückkehre, tue ich das mit gemischten Gefühlen: Auf der einen Seite finde ich das, was ich liebe und was mir noch sehr vertraut ist – die Menschen, bestimmte Gerüche und so weiter – auf der anderen Seite gibt es die Stigmata, Vorurteile und Engstirnigkeit einer ländlichen Gemeinschaft: Menschen, die ihr Dorf nie verlassen, die über Generationen bleiben und an ihren Vorstellungen von Gemeinschaft festhalten. Ich bin immer wieder fasziniert, wie die Zeit dort stillzustehen scheint und niemand jemals etwas vergisst. Obwohl die Menschen sich an die schlechten Dinge besser zu erinnern scheinen als an die guten. Mit HOME wollte ich die Geschichte von jemandem erzählen, der angesichts der Umstände beschließt, nach Hause zurückzukehren und zu bleiben. Und er tut dies trotz des schweren Fehlers, den er begangen hat, obwohl er die Regeln der Gemeinschaft auf die schlimmste Art und Weise verletzte, als er jemanden getötet hat. Als Marvin nach Hause zurückkehrt, ist er gezwungen, sich sich selbst, den Menschen um ihn herum und den Konsequenzen seiner Vergangenheit zu stellen.

Die Realität Allein in den USA werden jedes Jahr mehr als 600.000 Häftlinge entlassen. Das entspricht in etwa der Einwohnerzahl von Albuquerque, New Mexico. Im Durchschnitt müssen USGefangene in einer sieben Quadratmeter großen Zelle ausharren und ihre allgemeinen Lebensbedingungen sind ähnlich eingeschränkt, angefangen bei der verfügbaren Nahrung, dem Zugang zu Informationsquellen und sozialen Kontakten. Wenn sie schließlich entlassen werden, sind sie völlig überfordert. Einfache Alltagsaufgaben wie das Benutzen eines Computers, das Fahren mit dem Bus oder das Bestellen in einem Fastfood- Restaurant werden zur Herausforderung. Darüber hinaus ist es für sie schwierig, Arbeit und eine Wohnung zu finden und sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Gerade in Zeiten, die von Flüchtlingskrise, Arbeitslosigkeit, Armut, Rassismus und zunehmender Waffengewalt geprägt sind, ist jeder von uns aufgerufen, sich mit den Themen Vergebung, Vertrauen und Anderssein auseinanderzusetzen – nicht nur in den USA. Innerhalb unserer Familien, als Mitglieder der Gesellschaft. Es fällt uns schwer, jemanden in unseren inneren Kreis zu lassen, der anders ist, vor allem, wenn er einen Fehler gemacht hat. Es scheint einfacher zu sein, misstrauisch und feindselig zu bleiben und sich auf das Verbrechen zu konzentrieren, das begangen wurde. Vergebung und Menschlichkeit zu zeigen, ist nicht einfach.

Look / Erzählstil Für den Look des Films habe ich mich von Darren Aronofskys THE WRESTLER und dem stärker stilisierten TRAINSPOTTING von Danny Boyle inspirieren lassen. Auf der einen Seite sollte sich der Film rau und echt anfühlen, auf der anderen Seite wollte ich, dass er modern und hip ist, ohne das zentrale Thema aus den Augen zu verlieren. Mit seinem blauen Trainingsanzug, seinen roten Haaren und seinen Tattoos ist Marvin optisch so markant und stilprägend wie Lola in LOLA RENNT oder die Protagonisten von RESERVOIR DOGS oder Uma Thurman als ‚Braut‘ in KILL BILL. In Bezug auf die Farbe mag ich den ausgeblichenen monochromen California-Look. Allerdings habe ich die Wärme zu einem etwas kälteren Ton heruntergestuft. Mit natürlichem Licht zu arbeiten, Schatten und Dunkelheit als Teil der Erzählung zu nutzen, ist für mich entscheidend. Die Sets waren rau, arm und schmutzig; so real wie möglich.

Meine Rolle als Regisseurin Nach zwanzig Jahren als Schauspielerin für Kino und TV, nachdem ich selbst bei einem Kurzfilm Regie geführt habe und sieben Jahren als publizierende Autorin, war es für mich der nächste logische Schritt, ein Drehbuch zu schreiben und den Film zu realisieren. Als Schauspielerin bin ich in der deutschen Independent-Filmszene „aufgewachsen“. Fast alle Regisseure, mit denen ich gearbeitet habe, schrieben ihre eigenen Drehbücher. Mit Tom Tykwer, dem Autor und Regisseur von LOLA RENNT und DER KRIEGER UND DIE KAISERIN habe ich nicht nur fast sechs Jahre lang gearbeitet, sondern wir haben auch zusammengewohnt. Ich habe diese Arbeits-/Liebesbeziehung immer sehr geschätzt und bin überzeugt, dass sie großen Einfluss auf die subjektive Herangehensweise unserer Filme hatte und somit entscheidend für unseren gemeinsamen Erfolg war. Ein Regisseur muss den gesamten Prozess des Filmemachens lieben, darf keine Angst haben, Entscheidungen zu treffen und muss ein echter Teamplayer sein. Enthusiasmus ist ebenso wichtig wie die Fähigkeit, Kollegen zu loben und Verantwortung zu übernehmen. Mir hat die Arbeit als Regisseurin und auch die Postproduktion so viel Spaß gemacht, dass ich mich frage, warum ich nicht schon früher dorthin zurückgekehrt bin. Die Tatsache, dass laut „Variety“ weniger als 20 Prozent der Hollywood-Filme von weiblichen Regisseuren gemacht werden, oder, anders ausgedrückt, dass nur 2 Prozent der Top-100-Filme von Frauen inszeniert wurden, macht mich sprachlos. Diese Zahlen deuten auf eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen hin. Frauen erziehen neben ihrer „offiziellen“ Karriere ihre Kinder und erzählen ihnen abends zauberhafte Gute-Nacht-Geschichten – für mich sind das grundlegende Elemente, die eine erfolgreiche Regisseurin ausmachen. Diese Zahlen müssen sich ändern. Und ich möchte Teil dieser Veränderung sein.

Franka Potente
Foto (c) Vera Anderson

Franka Potente wurde 1974 in Münster geboren und ist eine der bekanntesten deutschen Schauspielerinnen. Ihren internationalen Durchbruch schaffte sie 1998 in Tom Tykwers Welthit LOLA RENNT. Danach spielte sie in großen Hollywood-Produktionen wie BLOW mit Johnny Depp, den BOURNE-Verfilmungen mit Matt Damon oder der Serie “Taboo” mit Tom Hardy in der Hauptrolle.

Franka Potente ist auch eine erfolgreiche Autorin (ZEHN. STORIES, 2010, ALLMÄHLICH WIRD ES TAG, 2014) und eine aufstrebende Regisseurin. Ihr Kurzfilm DER DIE TOLLKIRSCHE AUSGRÄBT feierte 2006 auf der Berlinale Premiere. Der Kinofilm HOME ist ihr Langspielfilmdebüt.

Regisseurin & Autorin
HOME (Regie & Drehbuch: Franka Potente)
DER DIE TOLLKIRSCHE AUSGRÄBT (Regie & Drehbuch: Franka Potente)
ALLMÄHLICH WIRD ES TAG (Autorin: Franka Potente) Roman
ZEHN. STORIES. Kurzgeschichten (Autorin: Franka Potente)
BERLIN – LOS ANGELES. EIN JAHR. (Autorin: Franka Potente)

Schauspielerin (Auswahl)
25 KM/H (Regie: Markus Goller) 2018
TABOO (Regie: Anders Engström, Kristoffer Nyholm) 2017-2018
Festivals (Auswahl): Writers’ Guild of Great Britain 2018
CONJURING 2 (Regie: James Wan) 2016
CHE: PART TWO (Regie: Steven Soderbergh) 2008
DIE BOURNE VERSCHWÖRUNG (Regie: Paul Greengrass) 2004
BLOW (Regie: Ted Demme) 2001
LOLA RENNT (Regie & Drehbuch: Tom Tykwer) 1998

HOME (2020) Regie: Franka Potente 

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