Ein Gespräch mit Regisseur Harald Friedl Brot (2020) Filmemachen ist wie gutes Brot – es braucht Genauigkeit und Zeit


aufgewachsen in Steyr, Oberösterreich. Lebt und arbeitet in Wien und Mitterretzbach (NÖ). Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität Salzburg. Danach in der Sozial- und Kulturforschung am Institut für Alltagskultur tätig. Anfang der 1990er Leiter des neu gegründeten Literaturhauses Salzburg. Seit 1994 freischaffender Filmemacher, Schriftsteller, Musiker. Lehrbeauftragter an mehreren US-Universitäten, 2012–2014 Gastprofessor an der California State University in Long Beach, Kalifornien. Zahlreiche Kinofilme und sowie mehrere TV-Dokus und Kurzfilme. Autor von Kurzgeschichten für Ö1 und literarische Anthologien. Co-Autor des Sachbuches für Wirtschaftsethik „Der Bäcker und sein Brot. Wie beseeltes Arbeiten und nachhaltiges Wirtschaften gelingen“ von Volker Schmidt-Sköries (2019). Vorstand des Österreichischen Dokumentarfilm Verbandes „dok.at“, seit 2015 dessen Obmann. © Helmut Wimmer Filmografie (Auswahl) What Happiness Is (88 Min, A 2012) So schaut‘s aus. G‘schichten vom Willi Resetarits (72 Min, A 2008) Aus der Zeit (80 Min, A 2006) Grand Jury Award des Seattle IFF Prix des Jeunes bei Cinéma du Réel, Paris Best International Documentary am Calgary IFF, Kanada Africa Representa (76 Min, A 2003) Land ohne Eigenschaften (75 Min, A 2000)

Interview

Brot ist ein Thema, das viele interessiert. Warum haben Sie begonnen, sich damit auseinanderzusetzen? Hatten Sie die Idee schon vor dem aktuellen Brot-Trend?

Harald Friedl: Vor einigen Jahren hatte ich viel im Großraum Los Angeles zu tun und habe dort das österreichische Brot sehr vermisst. Wenn ich dann nach Österreich zurück gekommen bin, waren meine Wach-und Schlafenszeiten sehr durcheinander. Manchmal bin ich schon um fünf Uhr Früh in die kleine Kornradl-Bäckerei im 7. Bezirk gegangen, habe die Gerüche genossen, mit dem Bäcker Dieter Smolle geredet und ihm bei der Arbeit zugesehen. Da habe ich zum ersten Mal eine Ahnung bekommen, wie viel Brot mit Kultur zu tun hat, mit Haltungen, Überzeugungen, mit unserem Wirtschaftssystem. Und als mich Johannes Rosenberger und Constantin Wulff fragten, ob ich Interesse hätte, einen Film über Brot zu machen, war ich gleich Feuer und Flamme. Sie haben mich mit der Journalistin und Buchautorin Eva- Maria Bachinger bekannt gemacht, die bereits wusste, dass an dem Thema noch mehr dran ist, als ich gedacht hatte. Gemeinsam haben wir uns dann über zwei Jahre lang immer tiefer in das Themenfeld hineingearbeitet, das immer spannender wurde.

Was hat das für die Recherchen bedeutet?

Es war wichtig, Fakten von Propaganda zu unterscheiden. Ich musste populäre Bestseller zu Ernährung und Brot lesen, deren Aussagen nicht korrekt sind. Dann ging es darum Insider zu finden, die uns Einblicke in ihre Welt gewähren … Das war bei den Handwerksbäcker*innen nicht schwierig, im Bereich der Industrie dagegen schon.

Nach welchen Kriterien sind Sie denn dabei vorgegangen?

Bei den Handwerksbäcker*innen ging es darum, sehr verschiedene Charaktere mit möglichst unterschiedlichen Ideen über Brot zu finden, Bäcker*innen verschiedener Länder auch. Wer gehört zu den Besten, was treibt ihn oder sie an, so oder so zu backen? Wie arbeiten sie, was bedeutet ihnen Brot? Welche ethischen, sozialen Gedanken verbinden sie damit? Wie sehen die Räume aus, in denen sie backen? Sind die überhaupt geeignet für Dreharbeiten? Die Französin Apollonia Poilâne war berühmt, auf sie stößt man schnell. Ihr uralter Ofen ist spektakulär, die Familiengeschichte, alles. Christophe Vasseur war außerhalb seines Vierteils in Paris nur unter den absoluten Gourmets bekannt. Er hat ja auch nur seine eine, kleine Bäckerei am Canal Saint-Martin im 10. Bezirk, er kann keine Restaurants beliefern. Auf Vasseur kam ich durch den USamerikanischen Historiker Steven Kaplan, der Christophe in einer Publikation hervorhob. Von Harry-Brot ist bekannt, dass sie Dreharbeiten nicht grundsätzlich ablehnen. Es war aber unklar, in wie weit sich der geschäftsführende Gesellschafter und Eigentümer Hans-Jochen Holthausen auf Dreharbeiten einlassen würde. Er sollte sich ja einige Tage dafür Zeit nehmen. 

Haben alle gewusst, dass das ein kritischer Film wird?

Ich habe immer mit offenen Karten gespielt und gesagt, was ich will und welche Art Film das werden soll. Das hatte natürlich auch den Effekt, dass Technologieunternehmen mich nicht einmal zu einem Orientierungsgespräch treffen wollten. Manche haben es sogar abgelehnt, überhaupt mit mir zu telefonieren. Andere haben lange E-Mail Konversationen mit mir geführt, mich aber nur hingehalten. Mit einem Agrar-Weltkonzern und mit dem weltgrößten Enzymhersteller der Welt gab es nach mehreren Schreiben sowie stundenlangen Telefonaten schließlich doch Absagen. Ein Unternehmen der Nahrungsmitteltechnologie hat mich nach Schleswig-Holstein eingeladen und mir eine Führung geboten. Aber als es dann darum ging, das Abwiegen von Backenzymen zu filmen, hat die Firma einen Rückzieher gemacht. Der gesamte Bereich ist sehr, sehr heikel, weil es um enorme Profite geht. Nicht umsonst haben einige Zusatzstoffhersteller auf den Backmessen die größten Stände. Zum Glück war die Puratos-Group, die hoch technologische Backmittel produziert und 53 Fabriken weltweit hat, nicht abgeneigt, mit uns zu arbeiten. Wir konnten an ihren drei Standorten in Belgien drehen. Eine große Herausforderung war zu verstehen, wie alles zusammenhängt und es in einen filmischen Kontext zu bringen: die Böden des Waldviertels mit dem Weltmarkt für Getreide, die Mikroben auf der Haut mit patentierten Enzymcocktails, traditionelle Methoden mit gewagten Zukunftstechnologien, die Konsumgewohnheiten der Österreicher mit der großen Agrarpolitik, die französische Genusskultur mit einem preußischem Pragmatismus. So ist ein liebevoll österreichischer und gleichzeitig zutiefst europäischer Film entstanden, der das Kleinste mit dem Größten verbindet.

Wie kann man sich die Dreharbeiten vorstellen?

Erstes war mir wichtig, wieder mit Helmut Wimmer als Kameramann zusammenzuarbeiten – wir haben zuvor „What Happiness Is“ im Himalaya in Bhutan und das Willi Resetarits-Portrait „So schaut´s aus“ in Österreich gefilmt. Er hat ein tolles Gefühl für Menschen und ihrer Bewegungen vor der Kamera. Die Dreharbeiten waren wirklich schön – wegen des Geruchs in den Backstuben. Über die Hälfte der Drehzeit konnten wir in kulinarisch anregender Umgebung verbringen und haben ständig exzellentes Brot und Gebäck verkostet. Es war uns immer warm, manchmal auch zu warm. Während der Dreharbeiten sind bleibende Freundschaften mit einigen Bäcker*innen entstanden. Auch in der Industrie- und in der Hightech-Ebene des Films gab es schöne menschlich Begegnungen. Das sind ja keine bösen Menschen! Es gab allerdings bei Harry-Brot und bei der Puratos- Group schon auch Grenzen, was wir filmen durften und was nicht. Durch die zahlreichen Schauplätze und Ansprechpartner*innen ist es dennoch gelungen, ein ziemlich komplettes Bild der Verhältnisse zu zeigen. Sehr dankbar bin ich auch der Universität für Bodenkultur Wien. Ihre Forscher*innen haben uns immer wieder beraten. Voraussetzung für gute Dreharbeiten ist natürlich immer Vertrauen. Gegenseitiger Respekt zwischen Protagonisten, Regisseur und Kameramann ist das Um und Auf. Nur so kommt man nah genug an die Menschen ran. Nur wenn die Protagonisten darauf vertrauen, dass sie im Film nicht entstellt werden, dass ihre Worte korrekt wiedergegeben werden, kann man bei Dreharbeiten in die Tiefe gehen. Man muss als Regisseur von Dokumentarfilmen immer wissen, worauf man hinaus will, gleichzeitig den Menschen aber auch allen Spielraum lassen, damit sie von sich aus dorthin finden. Das erfordert Gespür, Vertrauen und Zeit.

Nach jahrzehntelangem Bäckersterben ist in den letzten Jahren ein Umschwung zu beobachten. Es gibt einige sehr erfolgreiche neue und alteingesessene Bäckereien. Worauf ist das Ihrer Meinung nach zurückzuführen?

Um Zeit zu sparen, wurde immer mehr im Supermarkt eingekauft, statt wie früher zum Bäcker, zum Fleischer, zum Gemüsehändler und in die Drogerie zu gehen. Deshalb mussten in allen Bereichen die meisten kleinen Geschäfte schließen. Viele kleine Bäcker haben außerdem den Fehler begangen, mit den fertigen Backmischungen der Industrie zu arbeiten. Die Konsequenz war, dass das Brot überall gleich geschmeckt hat. Viele Bäcker*innen haben das Backen ohne Fertigmischungen und Zusätze verlernt. Ein sehr erfolgreicher Handwerksbäcker hat mir erzählt, dass er um 1990 in die Schweiz gehen musste, um richtig backen zu lernen. Außerdem ist der Kult der Billigkeit immer mächtiger geworden. Im Slogan Geiz ist geil wurde er auf die Spitze getrieben. Dass Produkte einen fairen Preis haben müssen, ist nicht allen bewusst. Auch Brot wurde zu einem Billigprodukt. Momentan sieht es aber so aus, als würde der Kult der Billigkeit zumindest beim Brot an sein Ende kommen. Es gibt in den Städten einen Umschwung zu mehr Qualität. Davon profitieren Handwerksbäcker*innen, die nach natürlichen Methoden produzieren. Erich Kasses aus dem Waldviertel zum Beispiel, der einige junge Bäcker*innen inspiriert hat oder Josef Weghaupt, der es gut verstanden hat, einen Hype um sein Brot zu erzeugen. Auch einige Bäckereiketten wie Ströck in Wien zum Beispiel schaffen tolle Qualität. Es ist ein Wertewandel im Gang – zumindest bei Wein, Brot und Käse – von dem man nur hoffen kann, dass er anhält und breiter wird. Immer mehr Menschen erkennen Brot als ein LEBENSmittel an. Genuss spielt eine wachsende Rolle. Mehr Menschen akzeptieren, dass Qualität ihren Preis hat. Denn es ist ja so: Wann immer man billige Nahrungsmittel kauft, zahlt jemand oder etwas drauf: die Bauern, weil sie keinen gerechten Preis bekommen, die Böden und das Grundwasser, weil sie mit Giften belastet werden, die Arbeitenden in den Fabriken und letztendlich die Konsument*innen, weil sie sich mit billigem, industriellem Essen die Gesundheit ruinieren. Handwerksbäcker*innen bieten individuelle Produkte. Sie sind somit auch Anknüpfungspunkte zur Identifikation mit einem Wohnort. Es spielen so viele Faktoren zusammen: Genuss, Ökologie, Gesundheit, Arbeit, Lebensraum, Kultur. Mir scheint, dass mehr Menschen diese Komplexität spüren und anerkennen als noch vor ein paar Jahren.

Viele Bäckereien werben damit, dass sie nach alter Tradition backen, ganz wie früher. Wie ist es für den Konsumenten aber nachvollziehbar, wie und was ihr Bäcker produziert?

Das ist wirklich schwierig. Ein billiger Preis ist ein erstes Indiz dafür, dass mit dem Produkt irgendetwas nicht stimmt. Dann gibt es die Möglichkeit, die Bäcker*innen oder Verkäufer*innen zu fragen, aus welchem Mehl das Brot gemacht wurde, ob es Sauerteigbrot ist und wie lange die Fermentierungszeiten waren. Bekommt man keine ordentliche Auskunft, legt das ein geringes Engagement nahe. Das handelsübliche Brot besteht aus billigem Weizen aus der konventionellen Landwirtschaft und enthält Zusatzstoffe, auch wenn auf den Etiketten nichts davon steht. Es wird industriell auf voll automatischen Backstraßen hergestellt. Der Teig ist zu trocken, um Geschmack zu entwickeln. Er bekommt auch gar nicht die Zeit dazu. Konsistenz, Geschmack, Kruste, Farbe, Frischhaltung – all das kommt von technischen, funktionalen Enzymen, die beigemengt werden. Enzyme, die teils aus Mikroorganismen gewonnen werden, die hitzeresistent sind, oder solchen, die lange Gefrierzeiten überleben. Die holt man aus dem Eis der Antarktis oder aus heißen Quellen vulkanischen Ursprungs. Da sind internationale Konzerne der Backmittelbranche am Werk, die eine große, industrielle Produktion von Brot erst ermöglichen. Ich habe Ärzt*innen meines Vertrauens, und ich habe Bäcker*innen meines Vertrauens. Ich empfehle, sich auf die Suche nach den Bäckereien seines Vertrauens zu machen. Und ich empfehle, der eigenen Nase, den eigenen Geschmacksnerven zu vertrauen. Denn gesundes Brot schmeckt besser.

Hochwertiges Brot, dessen Teig viel Zeit in der Zubereitung braucht, kostet naturgemäß mehr als maschinelle Fertigprodukte, deren fertige Bachmischungen nur kurz aufgebacken werden müssen. Wie können Bäckereien den Preiskampf gegen Supermarktketten gewinnen? Wie kann es zu einem breiten Umdenken in der Bevölkerung kommen?

Den Preiskampf können sie nicht gewinnen. Sie können nur mit Qualität überzeugen und so Kund*innen gewinnen. Gutes Brot braucht gute Grundstoffe, viel Zeit und Gefühl. Das alles sind Kostenfaktoren. Mir scheint, dass das Umdenken bereits im Gang ist und an gesellschaftlichem Raum gewinnt. Ich schätze, dass es in der Bevölkerung inzwischen eine Mehrheit gibt, die sieht, dass es gesellschaftlich und ökologisch nicht mehr so weitergehen kann wie bisher. Die soziale Ungleichheit wird immer stärker, die Umwelt kaputter. Es werden immer mehr Pestizide eingesetzt, Arten sterben aus, der Klimawandel bedroht unsere Zukunft. Und doch wird von manchen immer noch so getan, als wäre quantitatives Wachstum und materieller Profit alles, worauf es ankommt. Wobei ich sehr, sehr schräg finde, dass es Leute gibt, die einen SUV fahren und immer das neueste Handy haben, ihre Nahrungsmitteln aber müssen billig sein. Trotzdem sollte es nie darum gehen, Menschen zu verurteilen, sondern sie einzuladen, die Dinge anders zu sehen und sich entsprechend zu verhalten. Einladen, sich hinzusetzen, gutes Brot zu genießen und über seine Entstehung nachzudenken.

Es ist doch aber auch so, dass viele Menschen auf billige Nahrungsmittel angewiesen sind, weil sie sich keine anderen leisten können.

Stimmt, für Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten und Kinder haben, ist Bio-Handwerksbrot zu teuer. Nachhaltiger, ökologischer Konsum ist also etwas für jene, die ihn sich leisten können. Damit enthält man allen, die sich keine Bioprodukte leisten können, auch die gesünderen Lebensmittel vor. Trotzdem sind die höheren Preise fair. Schrecklich unfair sind die niedrigen Löhne, die die meisten Arbeitenden bekommen. Unfair ist die Praxis der Agrarsubventionen, die die Falschen fördern. Wir müssten weg von der Subvention für Flächen und Massenproduktion und hin zur Förderung von Qualitätsarbeit und Qualitätsprodukten. Brot wirft zentrale politische Fragen auf!

Bei maschinell gefertigten Backprodukten hat man den Eindruck, dass die Optik vor dem Geschmack steht. Was sagt das über unsere Zeit aus?

Der Neoliberalismus versucht die Welt seiner quantitativen Logik zu unterwerfen. Darin ist er seit den 1980ern überaus erfolgreich – mit katastrophalen sozialen und ökologischen Auswirkungen. Nach der neoliberalen Logik hat nur Wert, woraus sich Gewinn erzielen lässt. Schönheit, Würde, Naturschutz, Menschlichkeit haben in diesem System keinen Wert – außer, sie lassen sich kapitalisieren. An diesen Zustand haben wir uns über die Jahrzehnte gewöhnt. Die Gesellschaft hat das Gewinnstreben über den öffentlichen Diskurs verinnerlicht. Und wer weder Unternehmer, noch Geschäftsmann, noch Investor ist, kann Gewinn am einfachsten erzielen, indem er so wenig wie möglich ausgibt, wenn er sich also etwas erspart. Das setzt eine wirkungsmächtige Spirale in Gang, einen Kult der Billigkeit, als dessen kleiner Held des Alltags sich der erfolgreiche Schnäppchenjäger fühlen kann. Auf Brot übertragen bedeutet das: Es muss billig sein und trotzdem so aussehen, als wäre es etwas Besonderes. Also werden Prozesse der Täuschung in Gang gesetzt. Und das ganz legal. Denn die Zusatzstoffe, die für das natürliche Aussehen, die Knusprigkeit von Brot, seinen Geschmack und seine Haltbarkeit sorgen, werden verschwiegen. Eigentlich müsste auf den Etiketten stehen, was wirklich im Brot drinnen ist. Wenn man in den Backshops aber nach Angaben sucht, woraus das Brot gemacht ist, steht da nur Mehl, Wasser, Salz und Hefe drauf. Doch ist das in den allermeisten Fällen nicht alles. Das Ganze ist eine riesige Wettbewerbsverzerrung gegen die Kleinen und zugunsten der Großen. Denn es wird der falsche Eindruck geweckt, als würden ohnehin alle ganz natürlich backen.

Die Traditionsbäcker*innen im Film sprechen alle den für ein gutes Brot notwendigen Faktor Zeit an – im Gegensatz dazu steht eine Gesellschaft, in der nie Zeit für irgendetwas zu sein scheint, oder?

Genau. Unter Zeitmangel kann man nur impulsiv und automatisch handeln wie eine Maschine eben. Und es entsteht kein Zeit-Raum, indem Gefühle, Genüsse, Achtsamkeit, Gemeinschaft florieren können. Solche Elemente des Lebens kommen zu kurz. Aber wenn die zu kurz kommen, kommt auch das Leben zu kurz. Daher haben viele Menschen das Gefühl, zu wenig vom Leben zu haben.

Sie haben Bäcker*innen in verschiedenen Ländern getroffen – was unterscheidet sie? Was ihre Zubereitungsarten? Ihre Philosophie?

Gibt es DAS französische, DAS österreichische Brot? Die UNESCO erkennt jedenfalls das Deutsche Brot seiner Vielfalt wegen als Weltkulturerbe an. Auch Österreich könnte sich um diese Anerkennung bemühen. Historisch hatte die österreichische Backkultur großen Einfluss auf die französische. Angeblich gab es starken Wiener Einfluss auf das Baguette. Das Kipferl mutierte zum Croissant und noch heute heißt Feingebäck in Frankreich Viennoiserie. Wir haben im deutschsprachigen Raum ganz offensichtlich eine starke Kultur des Roggenbrotes, während in Frankreich Weißbrote doch weit stärker überwiegen. Mein Freund Volker Schmidt-Sköries, ein Biobäcker*innen- Pionier aus dem Rhein-Main Gebiet, hat kürzlich gemeint, es gäbe in keiner anderen Stadt eine so reichhaltige Backkultur wie in Wien. Vielleicht ist Wien die Welthauptstadt des Brotes und sie weiß es bloß noch nicht. „Kruste & Krume“ der Barbara van Melle ist nicht nur eine gute Geschäftsidee, sie betreibt auch wichtige Aufklärungsarbeit. Es gibt viele phantastische Bäcker: den Brandl in Linz, den Auer in Graz, einige in Salzburg, Kasses in Thaya, Gragger in Ansfelden und Wien, Denise Pölzlbauer bei Wiener Neustadt und und und … Auch Sarah Wiener in Berlin. Und natürlich Paris! Die berühmte Apollonia Poilâne und Christophe Vasseur, ein Künstler seines Faches, spielen Hauptrollen im Film. DAS Französische, DAS Österreichische sehe ich nicht, jedoch eine Fülle von Eigenarten. Es gibt sicherlich globalisiertes Brot: Ciabatta zum Beispiel, das weltweit auf den Backmischungen jenes belgischen Konzerns beruht, der im Film eine große Rolle spielt. Seine extrem starken Wirkstoffe müssen im Verhältnis von einigen wenigen Teilchen pro einer Million Teilchen verdünnt werden. Es genügen also schon ein paar Gramm pro Tonne Mehl, um mächtige Wirkung zu entfalten. Was diese Dinge dann in uns bewirken, ist kaum erforscht. Am Ende sieht dieses Designerbrot fast so schön aus, als hätte es ein geübter Handwerksbäcker*innen aus erstklassigem Mehl gemacht. Bei Geruch und Geschmack kann es allerdings nicht mithalten. 

Die meisten Handwerksbetriebe klagen über Nachwuchsprobleme, gerade der Bäckereiberuf galt aufgrund der Arbeitszeiten als unattraktiv – immer noch so?

Die Nachtarbeit hat den Beruf des Bäckers unattraktiv gemacht. Heute gehört aber Nachtarbeit vor allem zur industriellen Produktion, weil die Maschinen 24 Stunden laufen müssen. Einige Aufsichtspersonen müssen zusehen, ob alles richtig läuft. Im Handwerkssektor muss das nicht mehr sein. Dort braucht und bekommt der Teig viel Zeit, sich zu entwickeln – bis zu zwei Tage und Nächte. Diese Zeit verbringt er in Kühlkammern, die die Fermentierung verlangsamen, Stichwort Slow Food. Das führt dazu, dass in einer Biobäckerei wie bei den Öfferls nachts nur eine Person arbeitet und alle anderen erst um sechs Uhr morgens beginnen müssen. Ich könnte mir vorstellen, dass es bald als ausgesprochen cool gilt, Bäcker oder Bäckerin zu sein.

Im Film kommt auch Martin Häusling zu Wort, EUAbgeordneter und Bio-Bauer: Auch die Landwirtschaft, die ja mit dem Getreide die Basis für das Brot liefert, ist beherrscht von Massenproduktion und Preiskampf. Wie ist die Situation in Österreich?

In Deutschland gibt es Agrarunternehmen, die 20.000 Hektar Land besitzen und bis zu sechs Millionen Euro Agrarsubventionen erhalten. Leider ist es so, dass die europäische Agrarpolitik sich primär an den Möglichkeiten und Interessen von zehn Prozent der größten Agrarunternehmen orientiert. Ob sich daran durch die bevorstehende Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik etwas ändert, werden wir bald sehen. In den Alpen generell ist die Landwirtschaft kleinteiliger. Wir haben viele kleine Betriebe, die sogar Land bewirtschaften, das wenig Ertrag bietet. Die bauen seltene Sorten an, die sie dafür teurer verkaufen können. Das gleicht Nachteile aus und trägt zum Artenreichtum bei. Nicht umsonst haben wir in Österreich den höchsten Anteil biologischer Landwirtschaft in Europa. Im Bundesland Salzburg beträgt er sogar 50 Prozent.

Was ist der Unterschied in der Verarbeitung durch den Bäcker zwischen manipulierten Hochertragsgetreidesorten aus landwirtschaftlicher Massenproduktion und nicht genormten Sorten aus biologischer Landwirtschaft?

Mal ist es heißer, mal kühler, mal nasser, mal trockener. Das bedeutet, die Qualität des Getreides ist jedes Jahr anders. Und es ist auf verschiedenen Böden anders, es hat überall ein eigenes Terroir. Außerdem verändern sich die Eigenschaften von Getreide und Mehl auch während des Jahres. Zusatzstoffe können diese Veränderungen ausgleichen, sie unterwerfen das Mehl ihren Normen und machen den Teig maschinengängig. Im konventionellen Sektor wird außerdem Getreide aus anderen Weltgegenden importiert, um das Mehl den Voraussetzungen für die industrielle Produktion anzupassen. Und wenn das alles nicht ausreicht, um eine konstante Brotqualität zu schaffen, wird eben die Dosis an Zusatzstoffen erhöht. Das ist natürlich keine Option im Biobereich, der ohne technische Zusatzstoffe auskommt. Hier ist das Gefühl gefordert, die Rezepturen und die Verfahren an die Eigenschaften des Mehls anzupassen. Denn so ein Teig kann sich von Tag zu Tag anders verhalten je nach Luftdruck und Temperatur in der Backstube. Es ist wichtig, den Teig zu beobachten, seine Verfassung einzuschätzen und immer wieder anders zu behandeln. Das geschieht in der Industrie nicht.

Sie thematisieren aber nicht nur den Einfluss von Backmischungen auf die Qualität und den Geschmack von Brot, es kommt im Film auch eine Expertin für Umwelttoxikologie zu Wort. Worin bestehen die Gefahren der billigen, besonders ertragreichen Getreidesorten?

Man muss auch hier das Gesamtbild sehen. Die ertragreichen Sorten selbst sind nicht so sehr das Problem, sondern der Umgang damit. Schauen wir in einen Laden, in dem billiges Brot angeboten wird, ein Mischbrot um 2,50 das Kilo oder 10 Semmeln um einen Euro oder einen Toastblock im Sonderangebot. Solche Preise können nur mit schneller maschineller Produktion erzielt werden. Eine solche Produktion funktioniert nur mit Zusatzstoffen. Und wenn man Zusatzstoffe einsetzt, spielt die Qualität des Mehls keine so große Rolle mehr. Da das Endprodukt billig sein muss, wird billiges Mehl verwendet. Das kommt von Hochleistungssorten, die ihren gewünschten Ertrag unter Einsatz von Pestiziden erbringen. Für die Frischhaltung werden Emulgatoren zugesetzt. Meistens wird solches Brot dann auch noch abgepackt verkauft. Damit es nicht schimmelt, werden Chemikalien zugegeben. Im Plastik sind Weichmacher enthalten, die giftig sind. Da kommt ein ganz schöner Cocktail zusammen, der den menschlichen Organismus beeinträchtigt und verändert. Das hat die Professorin für Umwelttoxikologie, Joelle Rüegg, in Stockholm sehr schön dargestellt. Es spricht wirklich viel für Bio!

So komplex, wie das alles ist – wie war das beim Filmschnitt zu bewältigen?

Ähnlich wie gutes Brot – mit Genauigkeit und viel Zeit. Schnittmeister Martin Kayser-Landwehr und ich haben fast ein halbes Jahr konzentriert daran gearbeitet. Filme zu machen ist ja kein Solo-Streich eines Regisseurs. Es steckt viel Teamarbeit dahinter. Die erste große Herausforderung im Schnitt war, die zwei Hauptstränge von Industrie und Masse einerseits versus Individualismus und Handwerk andererseits zu verweben und immer darauf zu achten, dass jeder Hauptcharakter seine Präsenz behält, ohne dass der Film auseinander bricht. Die zweite große Herausforderung im Schnitt war, einen Film zu machen, der seinem Stoff gerecht wird, der das faktisch Argumentative und das impressionistisch Anschauliche verbindet. Es sollte schließlich vor allem ein schöner, emphatischer Film werden, ein Film für unsere Zeit. Wie mir scheint, ist das gelungen. 

Quelle: Real Fiction Filmverleih