Interview mit Udo Flohr – Regie und Drehbuch EFFIGIE – DAS GIFT UND DIE STADT (2019)


Neben seinem eigentlichen Beruf besuchte Flohr jahrelang Seminare und Workshops, darunter an der Medienakademie Wetzlar, der Adrienne Weiss School New York und der Baltimore Film Factory, arbeitete an Filmdrehs mit und bildete sich so weitgehend autodidaktisch als Regisseur aus. Ein Gespräch auf einer Geburtstagsfeier mit dem Agenten des Bremer Schriftstellers Peer Meter, der unter anderem ein Theaterstück über Gesche Gottfried geschrieben hatte, führte schließlich zu Flohrs erstem abendfüllenden Spielfilm. Mit EFFIGIE – DAS GIFT UND DIE STADT feierte er auf Anhieb große Erfolge auf internationalen Festivals, etwa in Barcelona, Bulgarien, Italien und Nordamerika, wo sein Debüt mit insgesamt rund 20 Preisen ausgezeichnet wurde, darunter mehrfach als bester Film. Udo Flohr kam am 3. Mai 1959 in Hannover zur Welt. Nach dem Abitur studierte er an der dortigen Leibniz-Universität Sprachwissenschaft, Psychologie und Geographie und machte einen Magister-Abschluss. Zehn Jahre lang arbeitete er anschließend als Geschäftsführer der Focus Computer GmbH, einer von ihm selbst gegründeten Software-Firma. Danach wechselte er das Metier und schreibt seither als freier Wissenschaftsjournalist, unter anderem für den Spiegel, Deutschlandfunk und MIT Technology Review.

Interview

Warum wählten Sie für Ihr Regiedebüt die Bremer Serienmörderin Gesche Gottfriedals Sujet?

Zum einen suchte ich nach einem Stoff, der sich für ein Kammerspiel eignen würde. Wenn man seinen ersten Film macht und eigentlich kein Geld hat, ist ein Kammerspiel eine gute Möglichkeit, sich nicht völlig zu ruinieren. Da bot sich das Theaterstück von Peer Meter geradezu an, weil es ja nur in einem Verhörraum spielt. Zum anderen fand ich es interessant, dass auch Rainer Werner Fassbinder einen Film über die Gottfried gemacht hat und zu einer anderen Interpretation kam als ich. Fassbinder deutete ihre Taten in erster Linie emanzipatorisch.

Beim ersten Mord an ihrem gewalttätigen Mann scheint mir das noch halbwegs nachvollziehbar. Aber wenn man sich überlegt, dass sie später auch ihre beste Freundin und deren dreijährige Tochter umbrachte, wofür überhaupt kein Motiv erkennbar ist, funktioniert es als einzige Erklärung nicht. Wir kamen – zusammen mit Ulrich Sachsse, einem Psychiatrieprofessor, der mich beraten hat – zu dem Schluss, dass Gesche an einer Störung litt, die bei ihr vermutlich das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom ausgelöst hat. Bei der Arbeit am Drehbuch ist mir irgendwann noch etwas anderes bewusst geworden: Als ich neun Jahre alt war, starb meine Mutter völlig überraschend, und es gab deutliche Anzeichen eines Diabetes-Komas oder einer Vergiftung. Ich war dabei, als sie starb – als einziger, und das war für einen Neunjährigen natürlich eine traumatische Erfahrung. Während meiner Kindheit und Jugend hat mich das immer wieder beschäftigt. Ob es allerdings ein unbewusster Grund mit dafür war, dass ich mich dieses Thema angenommen habe, darüber lässt sich nur spekulieren.

Haben Sie das als Vorlage dienende Theaterstück sehr verändert?

Doch, schon. Die Arbeit am Drehbuch war langwierig, am Ende dauerte sie drei Jahre. Das hing auch damit zusammen, dass ein Bühnenstück doch nicht so leicht adaptierbar ist, wie man denkt. Filmische Mittel unterscheiden sich eben sehr von denen eines Stücks. Der Gedanke, adaptieren wir einfach mal ein Theaterstück, erwies sich ein bisschen als Falle. Anfangs sind wir zu nah an der Vorlage geblieben, außerdem handelt es sich ja um eine wahre Geschichte. Man möchte verdichten, man möchte fiktionalisieren, man möchte dramatisieren – und gleichzeitig glaubt man, bestimmte rote Linien nicht überschreiten zu dürfen, um bei der Wahrheit und verbürgten Ereignissen zu bleiben. Die meisten Äußerungen, die wir Gesche Gottfried in EFFIGIE in den Mund legen, stammen zwar wörtlich aus den Gerichtsprotokollen. Aber die niedergeschriebenen Verhöre waren ja auch schon paraphrasiert. Es gibt insgesamt rund 2.000 Seiten Gerichtsakten; wir mussten aus den vielen Äußerungen also eine Auswahl treffen, die zu meiner Inszenierungsidee passte: Ich war der Meinung, dass Gottfried, die künstlerische Ambitionen hatte und auch Ballett tanzte, in der 8 Öffentlichkeit stets eine Rolle spielte. Sie sollte vor anderen niemals Reue zeigen, sie sollte nicht um Gnade bitten oder zusammenbrechen. Sie sollte immer diese souveräne Person bleiben. Sie war ja auch eine Art Verführerin, die viele Ehemänner verschlissen hat. Aus den Schriftsachen, die von ihr selbst noch erhalten sind, geht hervor, dass sie eloquent und zu einer gewissen Reflexion in der Lage war.

Mussten Sie die Äußerungen eigentlich sehr stark modernisieren?

Das lag irgendwo in der Mitte, mit Gewalt haben wir das jedenfalls nicht umgepolt. Ich finde schon, dass es sich – zumindest so, wie es in den Protokollen steht – um eine relativ moderne Sprache handelt. Peer Meter erkennt darin sogar einen Kleistschen Sprachstil. Andererseits weiß man natürlich nicht, ob Gesche so gesprochen hat … oder ob der Protokollant geschrieben hat wie Kleist. (lacht) Aber es klingt alles wirklich nicht besonders altertümlich.

Obwohl es für Sie rote Linien gab, haben Sie aus dem Protokollanten, der ein Mann war, eine junge Frau gemacht. Warum?

Stimmt, in Wahrheit handelte es sich um einen 49-jährigen, promovierten, männlichen Juristen. Mir gefiel der Gedanke, dass eine Frau eine Frau jagt. Und dass eine Frau eine andere unter Umständen besser versteht als ein Mann. Beide erleben ja die weibliche Unterdrückung ihrer Zeit. Beim Schreiben habe ich mich manchmal gefragt, ob sie das ganz normal fanden, weil sie gar nicht gemerkt haben, dass sie unterdrückt werden – aber ich glaube, dem war nicht so. Es gibt ja Autorinnen aus jener Epoche, die das thematisierten. Zum Beispiel die sogenannten Göttinger Universitätsmamsellen. Die dienten mir sozusagen als Vorbild für Cato Böhmer. Es handelte sich um Töchter und Ehefrauen von Professoren, die eine Art inoffizielles Studium absolvierten. Aus dieser Gruppe sind sieben besonders hervorgetreten, eine davon hieß Caroline Böhmer. Die war unter anderem mit August Schlegel verheiratet, dem Shakespeare-Übersetzer. Inzwischen steht wohl fest, dass Caroline ihm bei der Übersetzung stark geholfen hat. Sie unterhielt in Göttingen auch einen Salon, in dem Goethe und Schiller ein- und ausgingen, eine echte Celebrity ihrer Zeit. Für mich ist Cato Böhmer ihre Tochter.

Dass es im Film neben der Mörderin eine sympathische Identifikationsfigur gibt, war Ihnen vermutlich sehr wichtig, oder?

Ja, es wäre schwierig gewesen, dem Publikum ausschließlich eine negative Figur zur Identifikation vorzusetzen. Aber Cato ist eine positiv besetzte Heldin, an der man auch gut die gesellschaftlichen Zwänge zeigen kann, denen Frauen ausgesetzt waren.

Ist Cato für Sie ein bisschen wie Clarice Starling in „Das Schweigen der Lämmer“ und Gesche somit die analoge Figur zu Hannibal Lecter?

Oh, ja! (lacht) Als Vorbereitung auf den Film hatte ich bei einem Workshop in New York die Gefängnisszene aus „Das Schweigen der Lämmer“ von Profischauspielern mit vertauschten Geschlechterrollen spielen lassen. Wie Hannibal Lecter zeigt ja auch Gesche keine Reue, zumindest wenn sie nicht allein ist. Ein anderes Vorbild für meine Inszenierung war übrigens die Figur der Alice Morgan, gespielt von Ruth Wilson, aus der BBC-Serie „Luther“ mit Idris Elba. Die erschießt in der ersten Folge bekanntlich ihre Eltern und zeigt ebenfalls überhaupt keine Reue. Alice Morgan ist schon ein bisschen so drauf wie Gesche.

Was erwies sich, als es endlich mit dem Dreh losging, am Set für Sie als die größte Herausforderung?

Ach, es ergaben sich schon vor Drehbeginn beinahe täglich neue Hürden. Drehstart war im September 2018, aber bis dahin hatten wir ihn schon drei Mal verschieben müssen. Unter anderem stand das Gutshaus, in dem wir ursprünglich drehen wollten, plötzlich nicht mehr zur Verfügung, weil der Besitzer pleite ging. Wir mussten uns also einen neuen Drehort suchen. Dadurch sprang unter anderem die Produktionsdesignerin ab. Vorher hatte sich auch schon der Kameramann verabschiedet, den ich seit Jahren kannte – wobei ich heute heilfroh bin, den Film mit Thomas Kist gemacht zu haben.

War es also eher die Logistik, die Ihnen Schwierigkeiten bereitete? Die Inszenierung selbst haben Sie souverän gewuppt?

Nein, natürlich nicht souverän. (lacht) Am ersten Tag hatte ich weiche Knie. Eine Sache, vor der ich beispielsweise großen Respekt hatte, war die Arbeit mit Kindern, die ich mir schwierig vorstellte. Lustigerweise stellte sich das als viel leichter und angenehmer heraus, als ich befürchtet hatte. Generell kann ich sagen, dass die Arbeit mit den Schauspielern für mich das Schönste und Interessanteste am Filmemachen ist. Und ich hatte das Glück, dass diese Liebe von meinen Schauspieler/innen erwidert wurde. Jedenfalls behaupteten sie, sie würden sehr gern mit mir arbeiten und das sei nicht selbstverständlich. Da wollte ich natürlich wissen, ob sie das zu jedem Regisseur sagen. (lacht) Aber sie versicherten, es gehe bei manchen Drehs schon ganz anders zu. Ich glaube es hat uns sehr geholfen, dass wir drei, vier Wochen vor Drehbeginn zwei Tage in Berlin geprobt haben und dann noch mal mehrere Tage vor Ort an den Sets im Gutshaus Behren-Lübchin, in dem unsere Produktionsdesigner Christina von Ahlefeld und Knut Splett-Hennig 17 verschiedene Sets eingerichtet hatten.

Hatten Sie die Montage Ihres Films quasi schon im Kopf, oder könnte man sagen, dass EFFIGIE mehr oder minder im Schneideraum entstanden ist?

Wenn man sehr rigide Vorstellungen vom Endergebnis hat, verbaut man sich zu viele Chancen, einen besseren Film zu machen. Weil man den kreativen Input der Beteiligten ausschließt. Das gilt für den Schnitt, aber auch für die Kameraarbeit und alle anderen Gewerke, natürlich auch für die Schauspieler und die vielen, vielen Angebote, die sie einem 10 machen. Wir haben schon während des Drehs geschnitten, das übernahm Andreas Farr aus Rostock. Er hatte am Set seinen eigenen Raum. Wenn nötig konnten wir abends schon Szenen sehen, die wir vormittags gedreht hatten. Er hat dann auch eine Rohschnittfassung verantwortet. Die war zwei Stunden lang und ähnelte dem, was ich als Film im Kopf hatte. Wir haben sie Sven Pape geschickt, meinem Cutter, der in Hollywood lebt und arbeitet. Er nahm sie zur Kenntnis (lacht), dann setzte er sich an den Schneidetisch und schaute sich das gesamte Material an. Er war beim Dreh ja nicht dabei, das kann auch ein Vorteil sein. Wir besprachen zunächst in groben Zügen, was mir psychologisch und strukturell wichtig war, und er schuf seine eigene Fassung, ohne dass ich neben ihm gesessen hätte, und stellte dabei auch wirklich einiges um. Diese Version sind wir anschließend gemeinsam durchgegangen, sehr kleinteilig und intensiv. Am Ende entstand eine Synthese. Im letzten Arbeitsgang nahmen wir Frame-genaue Korrekturen vor.

Hand aufs Herz: Haben Sie mit der phänomenal positiven Resonanz gerechnet, die Ihr Film auslöste – auf internationalen Festivals, wo er reihenweise Auszeichnungen abräumte, ebenso wie in den USA?

Geträumt vielleicht – aber nein, damit habe ich wirklich nie gerechnet. Es gibt Sachen, die kann man sich vorher nicht ausdenken. Zum Beispiel, dass die „New York Times“ eine Kritik über deinen Film schreibt. Freunde aus Hollywood riefen mich an: „Wir verstehen gar nicht, dass die überhaupt deinen Film besprechen, und sie haben dich nicht gekillt – so was gibt es doch eigentlich nicht!“ (lacht) Solche Anerkennung ist natürlich wunderbar. Immerhin habe ich diesen Film nicht für mich selbst gedreht, sondern mit dem Ziel, dass daraus ein Produkt wird, das die Zuschauer interessiert. Auch andere Aspekte der Produktion entwickelten sich besser, als zu erwarten war. Zum Beispiel haben wir den Soundtrack mit den Prager Philharmonikern eingespielt – am Anfang dachte ich, so etwas könnten wir uns gar nicht leisten. Oder Uwe Bohm – ein Schauspieler, den ich schon immer, man könnte fast sagen: verehrt habe. Schon als er mit 14 eine Hauptrolle in „Nordsee ist Mordsee“ spielte. Dass er für meinen Film einen „Tatort“ sausen lassen würde, nachdem er unser Drehbuch gelesen hatte, das hätte ich mir auch nie träumen lassen. Oder dass mein Debütfilm in US-Großstädten wochenlang in den Kinos lief …

Also sehen Sie dem Kinostart hierzulande gelassen entgegen?

Klar gibt es eine Art Gewöhnungseffekt. Aber wenn es im Januar losgeht, werde ich sehr nervös sein. Bernd Eichinger hat gesagt: „Wenn ein neuer Film rauskommt, ist das so, als ob du deinen Kopf in das Maul eines Krokodils steckst – und das Publikum ist dieses Krokodil, das sich entscheidet, ob es zubeißt oder eben nicht.“ Genauso fühle ich mich jetzt im Hinblick auf das Release in Deutschland. Wobei ich natürlich hoffe, dass ein paar Zeitungen und Magazine Kritiken schreiben werden. Zum Beispiel der „Spiegel“, für den ich fünf Jahre 11 als Journalist gearbeitet habe. Ohne vermessen klingen zu wollen, ist eine „Spiegel“-Kritik etwas, worauf ich hoffe. Wobei sich natürlich fragt, wie diese am Ende ausfällt. (lacht)

Brennen Sie jetzt darauf, bald Ihren zweiten Film zu drehen?

Ich stecke bereits mittendrin! Zur Zeit habe ich nahezu wöchentlich Drehbuchbesprechungen, denn leider ist das Buch noch nicht so, dass man drehen könnte. Hätte es die Pandemie nicht gegeben, wären wir aber vielleicht schon weiter …  

Quelle: Entertainment Kombinat

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