Der Expressionismus ist eine der bekanntesten Kunstbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts. In ihm spiegeln sich die gesellschaftlichen Veränderungen einer bewegten Epoche. Quer durch die Kunstgattungen reflektiert der Expressionismus eine kulturelle Moderne, die ebenso faszinierend wie ambivalent und bedrohlich ist. Kritik, Tabu, Dekadenz, Sehnsucht und Aufbruchsstimmung prägen in den 1920er-Jahren die Gesellschaft und sind zentrale Motive in Kunst und Film. Otto Dix’ einfühlsame Porträts von Zuhältern und Prostituierten, Käthe Kollwitz’ ikonische Darstellungen von trauernden Müttern und Opfern des Krieges oder Fritz Langs zusammen mit Thea von Harbou entstandenes Filmepos “Metropolis” (1927) einer futuristischen Zweiklassengesellschaft sind hierfür Beispiele.
Die 1920er-Jahre sind genährt vom nervösen Gefühl des Kriegs und von politischen Umbrüchen, aus denen die Künste ihre Themen beziehen. Der Beginn des 20. Jahrhunderts ist jedoch auch eine Zeit lebhafter intellektueller Fruchtbarkeit: In den Kaffeehäusern treffen sich die künstlerische Avantgarde und ein gewöhnliches Publikum. Die deutschen Großstädte und insbesondere Berlin sind ein Eldorado der Varietés, Tanzsäle, Kinopaläste, Sportereignisse, Theater, Orte sexueller Befreiung und homoerotischer Subkulturen. Zwischen einem Ringen um Demokratie und gesellschaftliche Visionen, dem Sog neuer Medien sowie Errungenschaften zur Emanzipation der Frau, ist der Expressionismus revolutionärer Antrieb und Spiegel seiner Zeit.
In über 120 Gemälden, Zeichnungen, Druckgrafiken und Filmsequenzen präsentiert die Ausstellung wechselseitige Einflüsse von Kunst und Film. Das Kino der 1920er-Jahre löst mit seinen neuen technischen Möglichkeiten vieles von dem ein, was die expressionistischen Maler*innen bereits zuvor begonnen hatten – ein naheliegender Anlass, beide Kunstformen erstmals gegenüberzustellen und ihre engen Beziehungen aufzuzeigen. Mit Arbeiten von Paula Modersohn-Becker, Otto Dix, Franz Marc, Gabriele Münter, Wilhelm Morgner und Filmen von Fritz Lang oder Lotte Reiniger werden die 1920er-Jahre in drei Episoden vorgestellt: „Aufbruch und Bruch“, „Traum und Trauma“, „Form und Deformation“ werfen Schlaglichter auf das, was die Menschen damals erlebten. Kunst und Film verleihen diesen Themen einen lautstarken Ausdruck und lassen den Expressionismus auf neue Weise entdecken.
Aufbruch und Bruch
Eine allgemeine Aufbruchsstimmung und Sehnsucht nach Neuem prägt die erste Dekade des 20. Jahrhunderts. Menschen strömen in die Großstädte, um das beschwerliche Leben auf dem Land hinter sich zu lassen. Die Verheißungen insbesondere Berlins versprechen ein modernes, luxuriöses Leben und verschiedenste Verlockungen wie eine florierende Vergnügungskultur. Viele werden jedoch vom „Moloch“ Großstadt schnell verschluckt und erwachen am Rande der Gesellschaft. Ist die Stadt ein Sehnsuchtsort vor allem der ländlichen Bevölkerung, wird umgekehrt die Natur häufig zum Paradies stilisiert. Ebenso euphorisch wie viele, darunter Künstler*innen, vom Land in die Stadt und von der Stadt in die Natur aufbrechen, ziehen sie auch, in Erwartung einer besseren Gesellschaftsordnung, in den Krieg. Dabei erfahren sie einen ersten tiefen Bruch im neuen Jahrhundert.
Traum und Trauma
Die traumatische Erfahrung des Ersten Weltkriegs (1914-18), neue Erkenntnisse insbesondere auf dem Gebiet der Psychoanalyse, und das Ohnmachtsgefühl gegenüber dem rasanten gesellschaftlichen Wandel machen psychische Ausnahmeerscheinungen und die innere Zerrissenheit des Individuums zu einem Thema des Expressionismus. Die Porträts, Landschaften und Stadtansichten der expressionistischen Künstler*innen reflektieren eine Erschütterung des Ichs ebenso wie sich Filme mehr und mehr mit menschlichen Abgründen beschäftigen. Selbst wenn das Individuum noch dem Traum eines harmonischen Lebens in Einklang mit der Natur nachhängt, treten politische Dissonanzen, ein zunehmender Antisemitismus und Kluften zwischen den Klassen innerhalb der Gesellschaft immer klarer zu Tage.
Form und Deformation
In der Abkehr von einem getreuen Abbild der Wirklichkeit finden die Vertreter*innen des Expressionismus eine neue künstlerische Freiheit, die es ihnen ermöglicht, die beklemmenden und düsteren Geschehnisse ihrer Zeit kaleidoskopartig zusammen zu fügen. Privates Glück und Horror, Liebe und Verlorensein, Träume und ihr Scheitern werden in einem Bildraum oder Film zusammengefasst. Dies trifft den Nerv der Zeit – der Erfolg des Expressionismus und vieler Filme zeigt sich schnell über Deutschland hinaus weltweit in Ausstellungen und Kinosälen. Künstler*innen entwickeln eine Formensprache, die dem Gefühl ihrer Zeit entspricht. Deutlich wird dies in extremen Hell-Dunkel-Kontrasten, grellstarken Buntwerten, stark fluchtenden Linien, kippenden Perspektiven, scharfen Kanten, disharmonischen Physiognomien bis hin zur vollständigen Abstraktion der Form.
Künstler*innen
Max Ackermann, Max Beckmann, Rudolf Belling, Rüdiger Berlit, Heinrich Maria Davringhausen, Walter Dexel, Otto Dix, Erich Drechsler, Lyonel Feininger, Conrad Felixmüller, Lis Goebel, Arthur Goetz, Erich Heckel, Ludwig von Hofmann, Franz M. Jansen, Alexej von Jawlensky, Alexander Kanoldt, Käthe Kollwitz, Bernhard Kretzschmar, Wilhelm Lachnit, Fritz Lang, Otto Lange, Ernst Lubitsch, Paula Modersohn-Becker, August Macke, Karlheinz Martin, Franz Marc, Frans Masereel, Ludwig Meidner, Moritz Melzer, Wilhelm Morgner, Otto Mueller, Gabriele Münter, Friedrich Wilhelm Murnau, Heinrich Nauen, Emil Nolde, G. W. Pabst, Max Pechstein, Robert Reinert, Lotte Reiniger, Christian Rohlfs, Josef Scharl, Martel Schwichtenberg, Arthur Segal, Arnold Topp, Paul Wegener, Robert Wiene
Zur Ausstellung erscheint der reich bebilderte Katalog Expressionismus in Kunst und Film / Expressionism in Art and Film, Silvana Editoriale
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