Interview mit den Regisseuren Benoît de Lépine & Gustave Kervern ONLINE FÜR ANFÄNGER (2020)


Gustave Kervern hat schon an zahlreichen Fernsehsendungen wie „Avis de recherche“ oder „Surprise sur Prise“ mitgearbeitet, bevor er bei „Top 50“ und „Le plein de Super“ die Zusammenarbeit mit Bruno Solo und Yvan Le Bollo’ch beginnt. 1999 lernt er Benoît Delépine kennen, mit dem er bei der erfolgreichen Canal+-Sendung „Groland“ kollaboriert. Gemeinsam mit Sébastien Rost inszeniert er 2010 den Kurzfilm „Ya Basta!“. Die meisten seiner Projekte als Regisseur und Drehbuchautor stemmt Kervern allerdings zusammen mit Delépine. In vielen ihrer Filme ist er auch als Schauspieler mit von der Partie, etwa „Aaltra“, „Avida“, „Louise Hired a Contract Killer “, „Mammuth“, „Near Death Experience“ oder „Saint Amour – Drei gute Jahrgänge“. Darüber hinaus steht er aber auch für Filmemacher*innen wie Pierre Salvadori, Samuel Benchetrit, Pascal Chaumeil, Emmanuelle Bercot sowie jüngst Yann Le Quellec und Marie Castille Mention Schaar vor der Kamera.

Nach seinem Journalismus-Studium kommt Benoît Delépine in den späten achtziger Jahren zum Fernsehsender Canal+. Bei dem neu gestarteten Pay-TV-Kanal arbeitet er acht Jahre lang als einer der Schöpfer und Autoren der satirischen Puppen-Show „Les Guignols de l’info“. Anschließend wird er eine der Schlüsselfiguren der satirischen Nachrichtensendung „Groland“, wo er die Figur des Reporters Michael Kael aus der Taufe hebt. Nachdem er auch mehrere Comics schreibt, wendet sich Delépine 1998 dem Medium Film zu. Zunächst arbeitet er vor der Kamera, etwa in dem Kurzfilm „À l’arrache“ sowie der Komödie „Michael Kael – Live aus Katango“, in der er seine bekannte Fernsehrolle wieder aufleben ließ. Seit 2004 ist er, meist gemeinsam mit Gustave Kervern, vor allem als Regisseur tätig.

Interview

Monsieur Delépine, Monsieur Kervern, ONLINE FÜR ANFÄNGER steht ganz in der Tradition Ihrer bisherigen Filme und ist gleichzeitig ein Film über die Gelbwestenbewegung und eine höchst amüsante, beißende Kritik des digitalen Zeitalters. Womit nahm der Film seinen Anfang?

Benoît Delépine: Dies ist der zehnte gemeinsame Film von Gustave und mir. Wir sind nicht bloß Kollegen, sondern Freunde, die zusammenarbeiten, und unsere Filme sind eigentlich immer von unserem Leben inspiriert. Das begann mit „Aaltra“, zuhause in den Feldern der Picardie, und unser Ziel war es immer, eines Tages auf Mauritius zu landen, wo Gustave geboren wurde. Viele Filme lang haben wir unser Ziel nicht erreicht, doch jetzt war es endlich soweit. Da ONLINE FÜR ANFÄNGER von unkontrollierter Globalisierung handelt, fanden wir endlich einen Grund, es bis nach Mauritius zu schaffen. Denn der Mensch ist der Dodo der künstlichen Intelligenz (Anm. d. Red.: Im Film heißt es in einer Szene, dass der Dodo eine riesige mauritische Taube ist, deren Aussterben vom Menschen verursacht wurde). Genau wie einst der Dodo glaubt auch der Mensch, er sei die Krone der Schöpfung und hätte keine natürlichen Feinde. Doch er hat die K.I. erschaffen – und die ist mächtiger als er. Nun können wir die ersten Anzeichen davon sehen, wie es uns ergehen wird. Wir spüren, dass die Sache kein gutes Ende nehmen wird.

Gustave Kervern: Schon bevor wir überhaupt die Idee zu diesem Film hatten, telefonierten Benoît und ich jeden Tag und unterhielten uns darüber, wie überfordert wir sind von den unglaublichen Irrungen und Wirrungen des Alltags heutzutage. Ich verstehe zum Beispiel immer noch nicht, warum ich 60 Euro für meinen Handyvertrag zahlen soll, wenn ich überall Werbung für 20 Euro-Verträge sehe. Aber egal wie oft ich bei der Hotline meines Anbieters anrufe, höre ich immer nur, dass ich einen guten Vertrag hätte. Man bekommt das ungute Gefühl, verarscht zu werden.

BD: Man kann ja auch gar nicht mehr mit einer echten Person sprechen. Von früh bis spät hat man immer nur ein automatisiertes System am anderen Ende der Leitung.

GK: Die Sache mit der im Internet bestellten Bettlatte, die im Film zu sehen ist, ist mir tatsächlich so passiert. Es war schier ein Ding der Unmöglichkeit, das Ding umzutauschen. Der Shop verwies mich an den Hersteller in der Schweiz, und wenn ich dort anrief, wurde ich zurück an den Shop verwiesen und so weiter. Jeder von uns kennt ja ähnliche Situationen, mit Versicherungen, Banken, Telefonanbietern etc. Drücken Sie die Taste 1, drücken Sie die Taste 2. Wie fürchterlich zeitaufwändig das alles ist. Man muss einen ganzen Nachmittag einplanen, um solche Dinge zu erledigen – und hat am Ende trotzdem keine Garantie, dass man überhaupt die Gelegenheit bekommt, sein Ziel auch wirklich zu erreichen. Man fragt sich natürlich ständig, ob man sich vielleicht zu doof anstellt, aber sobald man mit den Leuten darüber spricht, merkt man, dass eigentlich alle das Gleiche erleben. Mich hat das an den Rand des Burnouts gebracht.

BD: Das alltägliche Leben ist zu einer dauerhaften Halluzination geworden. Für unsere Filme lassen wir uns immer wieder von der Realität überwältigen.

Zu den vielen Momenten, in denen der Film die Absurditäten unseres High Tech-Alltags aufs Korn nimmt, gehört der, in dem wir sehen, dass Marie (Blanche Gardin) sämtliche ihrer Usernamen und Passwörter im Eisfach aufbewahrt!

BD: Stimmt, schließlich müssen die ja auch ständig geändert werden.

GK: Man neigt dazu, überall das gleiche Passwort zu verwenden, aber dann riskiert man natürlich auch, überall gleichzeitig gehackt zu werden. Aber je mehr man sich an die neuen Passwort-Sicherheitsmaßnahmen hält, desto kompliziertere Passwörter muss man wählen – und die sind natürlich fürchterlich schwierig zu merken.

BD: Wir leben alle in einem riesigen Irrenhaus. Man hat keine andere Wahl und kann nicht mehr mit echten Menschen sprechen. Und dann wundern sich die Leute, warum es keine Jobs mehr gibt. Tja, du machst alles nur noch online und nicht mehr von Angesicht zu Angesicht, also ist es kein Wunder, dass die Arbeitslosenzahlen immer weiter steigen. Aber wenn es keine Jobs mehr gibt, warum sollten die Leute dann mit 64 Jahren in Rente gehen? Das ist alles fürchterlicher Unsinn. Vernünftige Menschen, die unsere Zukunft im Blick haben, sind sich bewusst, dass es immer weniger Jobs geben wird, weil zusehends Maschinen und Computer die ganze Arbeit übernehmen, so dass dann am Ende auch niemand mehr übrig ist, der für die Renten einzahlen kann.

Sie zeigen in ONLINE FÜR ANFÄNGER wie schwierig es in der High Tech-Welt geworden ist, mit einer Beschwerde einen echten Menschen zu erreichen. Wer auch immer an den Schaltstellen sitzt, ist nicht zu fassen, gesichtslos, weltumspannend, unwirklich…

BD: Wir haben recherchiert und uns mit Hackern getroffen. Der Sinn der Cloud ist es, dass unsere Informationen an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt verteilt sind. Aber es gibt durchaus noch einen physischen Ort, an dem man diese Daten löschen kann – und der befindet sich in der Regel in Kalifornien. Deswegen reist Marie im Film nach San Francisco.

GK: Unsere drei Protagonist*innen sind auf jeden Fall verwirrt und überfordert, wenn sie mit dem digitalen Monster konfrontiert werden.

BD: Sie haben sich dank der Gelbwestenbewegung kennen gelernt und sind zum Glück Freunde geworden, die sich gegenseitig unterstützen. Wie sonst könnten sie überhaupt nur versuchen, diese virtuelle Festung zu stürmen?

GK: Mit kleinen und mittelgroßen Städten in Frankreich haben wir uns schon in „Der Tag wird kommen“ beschäftigt. In ONLINE FÜR ANFÄNGER zeigen wir nun Menschen in ihren Wohnsiedlungen, die nicht Auto fahren, um Benzin zu sparen und den Kilometerstand niedrig zu halten. Ein Running Gag, der ganz gut zeigt, wie sehr sie Gefangene in ihren eigenen Häusern sind.

Haben Sie den Eindruck, dass die Gelbwestenbewegung sich auch aus diesem Gefühl von Einsamkeit und Isolation speiste?

GK: Unsere ursprüngliche Idee war es, dass der Film sich um eine einzelne Figur dreht. Das wäre quasi ein Gelbwestler gewesen, bevor es diese Bewegung überhaupt gab. Jemand, der gegen die Isolation, soziales Elend, die Digitalisierung der öffentlichen Versorgungsbetriebe und all diese Dinge kämpft. Doch kaum war der erste Drehbuchentwurf fertig, nahm die Bewegung ihren Anfang.

BD: Also haben wir das alles verworfen, denn wir hatten die Sorge, dass alle denken, wir würden nur opportunistisch der Herde folgen.

GK: Wir haben uns dann entschieden, die Geschichte so zu ändern, dass sie von drei Protagonist*innen handelt, die mit unterschiedlichen, aber in vielerlei Hinsicht eben doch ähnlichen Problemen zu kämpfen haben.

BD: Wir wollten außerdem stärker den Gedanken der Solidarität in den Fokus rücken, gerade in einer immer individualistischeren Welt, in der elektronische Geräte die Menschen zusehends voneinander isolieren.

GK: Corinne Masiero musste in ihrer Szene in der Mitte des Kreisverkehrs tatsächlich anfangen zu weinen. Wir wussten, dass sie selbst in die Gelbwestenbewegung involviert war, allerdings nicht wie sehr. Die Gelbwesten waren extrem wichtig für sie; durch sie gewann sie wieder Vertrauen in die Fähigkeit der Menschen, an einem Strang zu ziehen und wirklich aktiv zu werden. Sie war der Demonstrationen überdrüssig, die zu nichts zu führen schienen und stand selbst kurz vor dem Burnout. Wenn man als Don Quixote gegen Windmühlen kämpft, wird man einfach irgendwann müde. Die Gelbwestenbewegung hat sie wieder aufgemuntert.

BD: Ich erzähle dazu mal eine Geschichte. Wir suchten nach einem Ort, wo wir das Drehbuch schreiben wollten, nicht zu weit weg von Paris. Wir entschieden uns für das Städtchen Arras. Eines führte zum anderen und wir beschlossen, dort auch zu drehen, vor allem, als wir unsere Wohnsiedlung am Rande der Stadt entdeckten. Als wir Corinne erzählten, dass die Dreharbeiten nördlich von Paris, in Arras, stattfinden würden, konnte sie es gar nicht fassen. Genau dort nämlich ist sie aufgewachsen – und hat schon damals ordentlich Aufstand veranstaltet. Was für ein Zufall, dass wir uns aus 35.000 Städten in Frankreich ausgerechnet diese ausgesucht haben.

Ihr Film zeigt auch, dass die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und digitalen Teilungen, die inzwischen überall zu beobachten sind, alle miteinander zusammenhängen, nicht wahr?

BD: Selbstverständlich, all das hat miteinander zu tun. Vor einigen Tagen zeigten wir einen unserer Filme im „La Clef“, einem Aktivistenkino in Paris. Einen Film gemeinsam im Kino zu sehen ist eine vollkommen andere Erfahrung als alleine zuhause vor dem Fernseher oder dem Bildschirm zu sitzen. Deswegen auch die vielen Totalen: Es ist nicht unsere Aufgabe, mit Nahaufnahmen auf dieses oder jenes Detail zu fokussieren, sondern Sache des Publikums, die Bilder zu erkunden. Im Kino erlebt man diesen Moment gemeinsam, während du zuhause dabei ganz alleine bist und auch noch für all diese Digitalangebote bezahlst, die dich zusehends isolieren.

GK: Ganz gleich was man über die Gelbwesten denkt, hört man eine Sache immer wieder: Auf den Verkehrsinseln, wo sich die Protestler immer wieder versammelten, fingen die Menschen an, miteinander zu sprechen, sich auszutauschen und kennenzulernen. Das ist so wichtig! Das waren Nachbarn, die aber praktisch noch nie miteinander gesprochen hatten. Wie in unserem Film, der von drei einsamen Menschen handelt, die nebeneinander leben, sich aber bislang ignoriert hatten.

BD: Als Christine (Corinne Masiero) den Fahrservice kontaktiert, für den sie arbeitet, um herauszufinden, warum sie keine bessere Sterne-Bewertungen bekommt, wird sie gefragt, ob sie mehr Likes und Freunde will. Ihre Antwort ist: „Nein, ich habe alle Freunde, die ich brauche.“ Ich liebe diese Szene. Tatsächlich hat sie nämlich echte Freunde, während in der virtuellen Welt 10.000 Freunde eigentlich bedeuten, dass man keine hat.

GK: Durch die digitalen Technologien schließen immer mehr öffentliche Versorgungsbetriebe, was in ländlichen Gegenden natürlich noch deutlicher zu spüren ist, als in großen Städten. Es wird immer schwieriger, eine Post, einen Arzt oder ein Krankenhaus zu finden, denn die machen nach und nach alle zu.

Vieles, was Sie zeigen, ist natürlich alles andere als lustig. Trotzdem bringen Sie uns immer wieder zum Lachen.

GK: Wenn Bertrand (Denis Podalydès) zu einer anderen Postfiliale verwiesen wird, die 50 Kilometer entfernt ist, dann ist das natürlich komisch. Aber das Traurige daran ist, dass es eben tatsächlich so ist.

BD: Ich dachte, ich hätte mir die Formulierung „Herz von Hauts-de-France“ (so der Name der Region, in der der Film spielt, Anm. d. Red.) ausgedacht, aber sie existierte tatsächlich schon. Ein perfektes Beispiel für den unsinnigen Neusprech unserer Zeit. Klingt aber immer noch besser als „Foie de bas de France“ (wörtlich etwa: Leber von Niederfrankreich).

Obwohl Ihre Figuren knapp bei Kasse sind, sind Sie nicht mittelos. Sie zeigen damit, dass die aktuellen Krisen eben nicht nur die Ärmsten betreffen. Und dass nicht alle Konsumgüter, die an uns verhökert werden, uns auch wirklich glücklich machen.

BD: Immer, wenn ich an den Arsch der Welt zurückkehre und die Leute besuche, mit denen ich aufgewachsen bin, stelle ich fest, dass sie für heutige Verhältnisse gut dran sind. Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen. Das war nicht unbedingt komfortabel, aber ich war glücklich. In den Vorstadt-Regionen des Landes befinden sich die Menschen heutzutage auch nicht in fürchterlichsten Notlagen. Aber sie leben auf Kredit.

GK: Die Wohnsiedlung, in der wir gedreht haben, ist gar nicht so schlimm, sondern eigentlich sogar ganz nett. Die Menschen, die dort leben, fühlen sich durchaus wohl. Allerdings fiel uns auf, dass sie kaum miteinander sprechen. Sie kommen abends nach Hause und gucken Fernsehen, von einer Art Gemeinschaft ist nichts zu spüren.

BD: Diese Menschen sind weniger in wirtschaftlichen als in existentiellen Nöten. Wir trafen einen Mann, der eigentlich auf den ersten Blick ein gutes Leben führte, mit Frau und Kindern im Einfamilienhaus. Er arbeitete in Paris, kam jeden Tag erst am späten Abend nach Hause – und irgendwann verlor er die Kontrolle. Er verbrachte viel zu viel Zeit mit dem Pendeln und stand ständig unter Druck. Nach einigen Jahren ertrug er das alles nicht mehr und brachte sich um.

GK: Die Kinder hatten oft ihr eigenes Zimmer, aber dort blieben sie auch und spielten Videospiele, ohne sich auch nur im Geringsten für unsere Anwesenheit zu interessieren. Wir drehten zwischen den Bewohnern dieser Siedlung und lebten beinahe bei ihnen. Einige von ihnen begegneten sich durch uns überhaupt zum ersten Mal.

Dank der Dreharbeiten passierte also im echten Leben, wovon auch der Film erzählt?

BD: Ja, und genau deswegen machen wir Filme. Jedes Mal erleben wir ein neues Abenteuer. Wir drehen immer on location und lernen die Menschen kennen, die dort leben. Und jedes Mal ist das auch für uns eine Bereicherung.

GK: Wenn wir in Häusern oder Wohnungen drehen, verändern wir dort nichts. Dafür ist es soziologisch viel zu interessant, die Inneneinrichtung anderer Menschen zu betrachten, ihren Geschmack und Lebensstil. Im Fall von ONLINE FÜR ANFÄNGER zum Beispiel stießen wir in jedem Haus auf eine Bierzapfanlage.

BD: Wir konnten das gar nicht glauben. Vermutlich, weil es keine Bar in der Nähe gab. Kein Drehbuchautor könnte sich so etwas ausdenken. Außerdem hatten alle riesige Fernsehapparate in ihren Schlafzimmern!

Basieren Ihre Filme eigentlich wirklich immer nur auf eigenen Erfahrungen und Beobachtungen oder auch auf Büchern? Ich denke da zum Beispiel an die Arbeit des Geografen Christophe Guilluy, der sich mit dem suburbanen Frankreich beschäftigt. Oder an Romane wie „Wie später ihre Kinder“ von Nicolas Mathieu.

BD: Ich lebe in einem Vorort, rund 15 Kilometer von Angoulême entfernt. Dort bewege ich mich grundsätzlich mit dem Fahrrad fort – einem elektrischen, wie ich zugeben muss. Entsprechend habe ich die Entwicklung Frankreichs in den letzten 20 Jahren sehr genau beobachtet, und es wundert mich nicht, dass sie von Filmen und Büchern aufgegriffen wird.

GK: Als „Der Tag wird kommen“ in die Kinos kam, widmete das Wochenmagazin Télérama eine ganze Sektion dem Thema suburbanes Frankreich. Da kamen nicht nur wir beide, sondern auch der Fotograf Raymond Depardon und sicherlich auch besagter Geograph zu Wort.

BD: Ich will mich ja nicht brüsten, aber sobald ich sah, dass der Dieselpreis die Marke von 1,50 Euro pro Liter überstieg, wusste ich, dass es ernst wird. Daran bestand kein Zweifel. Die Leute wurden geschröpft, wie die Dodos. Erst ermutigte man sie dazu, fernab der Stadtzentren zu leben, wo es billiger war, Kredite aufzunehmen und auf Diesel zu setzen. Als dann der Dieselpreis quasi mit dem für Benzin gleichzog, brach dieses Konstrukt natürlich zusammen. In der Gelbwestenbewegung machte sich der Ärger darüber wie erwartet Luft. Kein Wunder, dass die Leute auf die Straße gingen, schließlich mussten sie das Gefühl haben, dass irgendwas mit dem System nicht stimmt. Im Fernsehen gibt es mehr Diskussionsrunden über Fußball als über die Renten, das ist doch verrückt!

In einer Szene spricht Christine über ihre Abhängigkeit nach Fernsehshows, so als seien das harte Drogen. Glauben Sie, dass Serien und TV-Shows ein Symbol der marktliberalen High Tech-Wirtschaft sind?

GK: Anfangs haben wir überlegt, den Film komplett am Telefon spielen zu lassen. Man fragte uns, wie wir das filmen wollen, ohne dass es todlangweilig wird, also dachten wir um. Aber es ist ja wirklich so, dass jeder von früh bis spät an seinem Telefon hängt, sogar die Älteren. Ich kann es wirklich kaum glauben! Das ist die neue Sucht. Dazu kommen Videospiele für die Kids und Fernsehshows für die Erwachsenen. Auch die machen abhängig, denn man hängt auf dem Sofa fest und ist glücklich, nicht irgendwo mit dem Auto hinfahren zu müssen. Mit der Zapfanlage und dem riesigen Fernsehbildschirm hat man ja quasi Bar und Kino direkt zuhause, was auch noch Kosten spart. Zumindest ist das der Eindruck, der erweckt wird. Am Ende muss man natürlich doch drei oder vier verschiedene Streaming-Abos abschließen, um all diese Serien gucken zu können.

BD: Zusammengerechnet verbringt man locker bis zu sechs Stunden am Tag mit Serien und Fernsehshows. Darauf umgelegt sind die Kosten sicherlich nicht allzu hoch. Allerdings zahlt man natürlich auch einen mentalen Preis: „bingen“ kommt schließlich vom englischen Wort für Exzess. Der Boss von Netflix hat kürzlich gesagt, ihre größte Konkurrenz sei der Schlaf der Leute. Ist das nicht unglaublich? Da wird um verfügbare Gehirn- und Lebenszeit konkurriert.

GK: Früher haben wir uns an der Kaffeemaschine über Filme unterhalten, heute sind es Serien. Wer „Game of Thrones“ oder „Haus des Geldes“ nicht kennt, ist abgeschrieben. Und das Irre am Internet ist ja, dass inzwischen jeder bewertet wird, so wie Christine in unserem Film. Restaurants oder Taxis werden bewertet, aber genauso kann der Taxifahrer bewerten, ob du ein schlechter Fahrgast warst. Wir alle urteilen und werten in einer Tour, so wie früher in der Schule.

BD: Diese Bewertung ist letztlich eine Jagd nach Mängeln, um diese auszumerzen. Aber ist der Mensch nicht eine Summe von Mängeln? Geht’s bei der Menschlichkeit nicht genau darum? Wir freuen uns doch eigentlich alle so sehr darüber, irgendwann die Schule hinter uns zu lassen und wollen eigentlich nicht dahin zurück. Natürlich ist es toll, dort lesen, schreiben und rechnen zu lernen, aber gleichzeitig muss man sich eben auch anpassen und wird ständig benotet. Das kann man doch als Erwachsener nicht ernsthaft wieder wollen! Wenn wir irgendwann den Löffel abgeben, sagt uns dann irgendein Engel, dass er uns für unser Leben einen von fünf Sternen gibt? Was für ein Irrsinn!

Lassen Sie uns noch über das Ensemble von ONLINE FÜR ANFÄNGER sprechen. Corinne Masiero haben Sie schon erwähnt. Warum haben Sie sie besetzt?

GK: Hauptsächlich wegen „Louise Wimmer“, einem hervorragenden Film, in dem sie ganz fantastisch war. Danach haben wir ihre Karriere weiterverfolgt und mochten immer ihre etwas großmäulige, freche Art. Für uns ist sie eine Art weiblicher Depardieu. Wenn wir für einen Film casten und wissen, dass wir einen ganzen Monat mit diesen Schauspieler*innen verbringen, dann geht es uns natürlich darum, gemeinsam Spaß zu haben. Wir suchen nach einzigartigen Erfahrungen.

BD: Der Vergleich mit Depardieu ist natürlich schauspielerisch gemeint. Corinne hat diese instinktive, animalische Seite und ist dabei trotzdem enorm präzise und akkurat.

Wie sieht es aus bei Denis Podalydès? Auf den ersten Blick passt der gar nicht unbedingt in Ihre Welt.

GK: Er bringt uns immer zum Lachen. Und wir lieben die Filme der Podalydès-Brüder. Sie sind immer richtig gut.

BD: Ihre brüderlichen Abenteuer sind unglaublich witzig und interessant. Denis ist eine Art französischer Woody Allen – verletzlich, wahrhaftig, berührend. Typen wie er sind einfach unglaublich. Als wir ihm die Rolle anboten, sagte er ohne zu zögern zu. Das war für uns ein echtes Geschenk, denn durch seine Beteiligung nahm das Projekt Fahrt auf und überzeugte Finanziers und Produzenten.

GK: Er spielte die Figur genau so sonderlich wie wir uns das vorgestellt hatten. Sein komödiantisches Gespür ist einfach famos.

BD: Er ist nie überheblich oder prätentiös, sondern immer ganz bescheiden, großzügig und unvoreingenommen. Während des Drehs hat er sich stets komplett in den Dienst des Films und der Rolle gestellt. Er ist einfach fantastisch.

Die Komikerin Blanche Gardin wiederum scheint wie die Faust aufs Auge zu Ihrer Welt und Ihrer Art des Humors zu passen.

GK: Blanche zu besetzten, lag auf der Hand.

BD: Sie ist noch viel mehr als die Idealbesetzung. Wenn man sie kennenlernt, glaubt man plötzlich an ein Leben nach dem Tod. Wenn man sie auf der Bühne sieht, haut sie einen um. Als wir ihr die Rolle anboten, machten wir uns nicht allzu große Hoffnungen. Es war kein bisschen weniger nervenaufreibend, als wir damals bei Depardieu anklopften. Zunächst sagte sie uns auch ab, weil sie eigentlich gerade ihren eigenen Film schreiben wollte. Also erzählten wir ihr, dass bei uns Viggo Mortensen mitspielen würde. Plötzlich ließ sich ihr eigenes Projekt dann doch aufschieben.

GK: Natürlich hat sie das mit Viggo Mortensen nicht wirklich geglaubt.

BD: Aber komm‘, dafür stand sie neben Denis Podalydès vor der Kamera, das ist doch auch etwas.

GK: Blanche misst sich selbst an enorm hohen Maßstäben, was wir uns nach Ansicht ihrer Bühnenprogramme schon gedacht hatten. Sie ist definitiv nicht mit dem Traum aufgewachsen, Kinoschauspielerin zu werden.

BD: Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie uns einen Korb gegeben hätte.

GK: Was wir dann auch akzeptiert hätten. Aber sie sagte begeistert zu. So hatten wir unser Trio für die Hauptrollen. Die drei sind ja interessanterweise vollkommen verschieden, in eigentlich jeder Hinsicht. Doch alle drei mochten unsere früheren Filme. Gedanklich tickten wir alle ähnlich, wie wir schnell feststellten.

Neben diesen drei Neulingen in Ihrer Welt, gibt es in Gastauftritten auch ein Wiedersehen mit alten Bekannten wie Benoît Poelvoorde, Michel Houellebecq, Vincent Lacoste oder Bouli Lanners…

GK: Da dies unser zehnter gemeinsamer Film ist – zumindest, wenn man unseren mittellangen Film mit Brigitte Fontaine mitzählt – wollten wir den Anlass nutzen, um Menschen um uns zu sammeln, die wir mögen. Allerdings hatten wir schlicht vergessen, dass Michel schon in „Near Death Experience“ einen lebensmüden Man gespielt hatte. Wann immer wir mit ihm arbeiten, will er sich umbringen!

BD: Poelvoorde zerreißt mir in seiner Szene fast das Herz. Er erinnert mich an Goyas Bild „Zeit der alten Frauen“. Er spielt einen Lieferanten, und das nicht nur sehr witzig, sondern vor allem unglaublich emotional. Dass er extra nach Arras gekommen ist, um für diesen kleinen Moment wirklich alles zu geben, war einfach toll.

ONLINE FÜR ANFÄNGER ist Ihr erster Film, der von Sylvie Pialat produziert worden. Kannten Sie sich vorher? Und ist das eine Art indirekte Hommage an die Arbeit des Filmemachers Maurice Pialat?

GK: Wir kennen Sylvie schon eine Weile. Sie ist ausgesprochen witzig, und wir haben schon lange überlegt, mal mit ihr zusammenzuarbeiten.

BD: Maurice hat uns miteinander bekannt gemacht. Er mochte uns und liebte Fernsehen.

GK: In der Arbeit von Maurice Pialat drehte sich immer alles um Menschlichkeit, große Emotionen und wahrhaftige Darstellungen.

BD: Seine Filme waren aber auch nie gefällig. Sie brauchten immer auch das Schweigen. Und steckten voller Details und Wendungen, ständig passierte etwas Neues. Er hat wirklich tolle Sachen gemacht, echt starken Tobak. Dagegen sind unsere Sachen geradezu harmlos.

GK: Was Sylvie angeht: Die mögen wir als Produzentin, aber auch jenseits der Arbeit. Wie bei allen Leuten, mit denen wir kollaborieren. Unsere Zusammenarbeit mit ihr war prima, nicht zuletzt, weil sie den richtigen Blick auf die Sache hatte und immer da war, wenn es nötig war.

Haben Sie eigentlich wirklich in Kalifornien auf dem Gelände eines der Tech-Giganten gedreht?

BD: Wir waren tatsächlich im Silicon Valley. Aber die Szene, wo Marie von Sicherheitskräften rausgeschmissen wird, haben wir im Louvre-Lens Museum gedreht.

GK: Mit besagten Firmen hatten wir sowieso zu kämpfen. Wir dürfen zum Beispiel nicht einmal den Namen Apple verwenden. Unglaublich!

BD: Diese großen Marken sind besser geschützt als Menschen. Wir durften nicht einmal den Ort Cupertino erwähnen, wo Apple seinen Firmensitz hat. Das ist so, als würde man uns verbieten, über Clermont-Ferrand zu sprechen, wo die Firma Michelin sitzt. Das ist doch verrückt, oder?

GK: Auch die Anonymous-Masken mussten wir nachträglich am Computer bearbeiten, denn die Rechte am Original liegen bei Warner Bros.

BD: Sogar dieses Symbol der Anarchie wurde durch einen multinationalen Konzern privatisiert. Das hat uns echt fertig gemacht.

Wie würden Sie denn ONLINE FÜR ANFÄNGER abschließend beschreibend: witzig, verzweifelt oder einfach hellsichtig?

GK: Tragikomisch. Eigentlich gilt das für fast alle unsere Filme. „Der Tag wird kommen“ beispielsweise ist für mich eine Komödie, aber viele empfinden den Film als bitter. Auch in ONLINE FÜR ANFÄNGER haben viele Genres Einzug gehalten. Am Ende zieht die Komödie gegenüber der Tragödie vielleicht ein wenig den Kürzeren. Doch das finde ich sogar ganz gut. Das heißt, dass der Inhalt hier wichtiger ist als die Form.

BD: Es läuft dieser Tage einfach etwas gehörig schief. Im Moment sitzen wir hier in einer alten Bar, die gegen Starbucks und ähnliche Ketten kämpfen muss. All diese interessanten Orte werden von Männern und Frauen geführt, die demnächst in Rente gehen. Aber sobald sie verschwunden sind, droht uns eine Welt, wie Houellebecq sie schon lange beschreit.

Gemeinsame Filmografie der beiden Regisseure

2020 ONLINE FÜR ANFÄNGER, Ko-Regie mit Benoît Delépine
2018 I FEEL GOOD, Ko-Regie mit Benoît Delépine
2016 SAINT AMOUR – DREI GUTE JAHRGÄNGE, Ko-Regie mit Benoît Delépine
2014 NEAR DEATH EXPERIENCE, Ko-Regie mit Benoît Delépine
2012 DER TAG WIRD KOMMEN, Ko-Regie mit Benoît Delépine
2010 MAMMUTH, Ko-Regie mit Benoît Delépine
2008 LOUISE HIRED A CONTRACT KILLER, Ko-Regie mit Benoît Delépine
2006 AVIDA, Ko-Regie mit Benoît Delépine
2004 AALTRA, Ko-Regie mit Benoît Delépine

Quelle: X-Verleih

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